Ein Jahr nach dem Sturz der Taliban -

hat sich in Afghanistan zwar viel zum Positiven gewendet, aber die Herausforderungen für die USA sind deswegen nicht weniger heikel geworden. Angesichts der fortwährenden Instabilität treten immer mehr Stimmen in Washington für ein verstärktes Engagement beim Wiederaufbau ein.
13.11.2002

spiegel.de

Vor genau einem Jahr haben die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul fluchtartig verlassen. Der Kollaps ihres Regimes erfolgte nur fünf Wochen nach dem Beginn einer amerikanischen Militäraktion, die mit massiven Schlägen aus der Luft begann und bald auch den Einsatz von Spezialtruppen am Boden umfasste. Der im Zusammenspiel mit der afghanischen Nord-Allianz errungene Sieg - in einem schwierigen Terrain und gegen einen schlecht einschätzbaren Gegner - dürfte trotz den Opfern unter der Zivilbevölkerung als brillantes Kapitel in die amerikanische Militärgeschichte eingehen.


Keine Stabilität :


Zu Recht weist die Führung in Washington auf die seither eingetretenen positiven Veränderungen hin: Die Infrastruktur der Terrorgruppe al- Kaida ist zerstört worden, in Kabul amtiert wieder eine einigermassen legitimierte Regierung, mehr als zwei Millionen Flüchtlinge sind in ihre Heimat zurückgekehrt, und menschenverachtende Regeln des Taliban-Regimes wie das Schulverbot für Mädchen gehören der Vergangenheit an. Seit der «Operation Anaconda» im letzten Frühjahr ist es kaum mehr zu grösseren Kampfhandlungen gekommen. Das etwa 8000 Mann starke amerikanische Kontingent in Afghanistan macht zwar noch Jagd auf versprengte Reste der Kaida und stösst regelmässig auf Munitions- und Waffenverstecke. Aber es erstaunt nicht, dass das Interesse in den USA an den Operationen abgeflaut ist und sich die Öffentlichkeit Sorgen über den erwarteten nächsten Militäreinsatz macht - im Irak. Die Regierung selber erweckt den Eindruck, als ob sie sich über ihre Ziele in der Hindukusch-Region nicht mehr ganz im Klaren sei.


Damit wächst auch die Gefahr, dass Afghanistan einmal mehr mit seinen Problemen allein gelassen wird. Denn politische Stabilität ist noch längst nicht eingekehrt, wie das nur knapp fehlgeschlagene Attentat auf Präsident Karzai im September und zuvor die Ermordung von zwei Ministern seiner Übergangsregierung drastisch vor Augen geführt haben. Karzai beklagte sich kürzlich bitter über das eigenmächtige Treiben diverser Warlords, deren Banden wie früher die Strassen in den Regionen unsicher machen, und Aussenminister Abdullah warnte in einem Artikel für die «Washington Post» vor einer neuen Blüte des Drogen- und Waffenhandels, falls die Sicherheit ausbleibe und der Wiederaufbau stagniere. Bereits in diesem Jahr registrierte die Uno einen sprunghaften Anstieg des Opiumanbaus - ein sicheres Indiz für die verzweifelte Lage, in der sich die ländliche Bevölkerung befindet.


Zurück zu «Nation-Building» :


Die Entwicklungen in Afghanistan werden in Washington mit Unbehagen verfolgt und haben da und dort den Ruf nach einer Kursverschiebung ausgelöst. Der Vorsitzende der Vereinten Generalstabschefs, General Richard Myers, räumte vergangene Woche bei einem Auftritt in einer Washingtoner Denkfabrik, der Brookings Institution, ein, dass die Militäroperationen an Schwung verloren hätten. Nun stelle sich die Frage, ob man für die nächste Phase bereit sei - sich weniger um die Überreste der Kaida und der Taliban zu kümmern als um den Wiederaufbau. Laut Myers ist die regierungsinterne Diskussion darüber aber noch nicht abgeschlossen.


Der Administration Bush fällt es nicht leicht, über ihren eigenen Schatten zu springen: Vor zwei Jahren war sie mit dem Versprechen angetreten, sich nicht in das «Aufbauen von Nationen» in aller Welt verstricken zu lassen. «Nation- Building», die Schaffung von politischen und wirtschaftlichen Grundlagen für ein lebensfähiges Staatswesen in Afghanistan, gehört jedoch wohl unvermeidlich zu jenen Aufgaben, ohne deren Erledigung der militärische Sieg ein Stückwerk bliebe.

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Eine zaghafte Verschiebung der Prioritäten zeichnet sich ab. In einem von der «Washington Post» zitierten Lagebericht des Geheimdiensts CIA heisst es, dass der Wiederaufbau der wichtigste Faktor sein könnte, um die Sicherheit zu erhöhen und einen Rückfall Afghanistans in seine frühere Rolle als Heimstätte für Terroristen zu verhindern. In den letzten Monaten berichtete das Pentagon regelmässig darüber, wie amerikanische Soldaten Schulen und Spitäler renoviert hätten. Mit der Entsendung von 170 weiteren Militärangehörigen für den Einsatz in zivilen Projekten - eine Verdoppelung des bisherigen Personals - will das Verteidigungsministerium diese Komponente nun offenbar verstärken. Wenn man in die Lage kommen wolle, die eigenen Truppen abzuziehen, so müsse man ein stabiles Umfeld hinterlassen, erklärte der für Wiederaufbaumassnahmen zuständige Untersekretär Dov Zakheim. Bis zu einem Abzug werden nach Einschätzung der Militärführung allerdings noch Jahre vergehen.

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Keine Aufstockung der Schutztruppe?


Trotz den Zivileinsätzen amerikanischer Soldaten ist klar, dass beim Wiederaufbau weniger die Armee gefragt ist als die internationale Gebergemeinschaft. Bei einer Konferenz in Tokio waren im Januar Hilfsversprechen in der Höhe von 4,5 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jahre abgegeben worden. Bei einem Nachfolgetreffen in Washington vor einigen Wochen beklagte sich die afghanische Seite jedoch darüber, dass von den für das Jahr 2002 vorgesehenen Geldern nur die Hälfte freigegeben worden sei. Diese Summe sei hauptsächlich in kurzfristige Hilfsprojekte, nicht in den Wiederaufbau geflossen. Die USA betonen, dass sie im Unterschied zu den Europäern ihre Zusagen eingehalten hätten. Kürzlich gaben sie zudem ihre Beteiligung an der Finanzierung der Renovation wichtiger Überlandstrassen bekannt. Einen Marshallplan wie für das zerstörte Europa nach dem Zweiten Weltkrieg hat Washington jedoch nicht initiiert.

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Manche Beobachter vermissen zudem eine amerikanische Führungsrolle im Zusammenhang mit der internationalen Sicherheitstruppe Isaf. Die Isaf setzt sich aus knapp 5000 Militärangehörigen aus der Türkei und einer Reihe von europäischen Ländern zusammen; ihr Einsatzgebiet beschränkt sich auf die Hauptstadt Kabul. Die afghanische Forderung nach einer massiven Aufstockung dieser Truppe und ihre Verlegung in weitere wichtige Städte wurden von den USA lange Zeit nicht mitgetragen. Washington bevorzugte die Schaffung einer nationalen afghanischen Armee als Quelle der Stabilität im Lande. Doch das Schneckentempo beim Aufbau der Armee und die Rechtlosigkeit in vielen Landesteilen führten dazu, dass sich auch Washington für die Idee eines grossflächigeren Isaf-Einsatzes erwärmte. Trotzdem stehen die Chancen für eine Realisierung schlecht, da die beteiligten Länder ihre Kontingente nicht vergrössern und die USA keine eigenen Truppen beisteuern wollen.

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Grössere Distanz zu den Warlords :


In vielen Regionen herrschen daher eigenmächtige Milizenchefs, die sich von der Regierung Karzai kaum etwas vorschreiben lassen. Kritiker bemängeln, dass die USA die Position dieser Warlords sogar noch gestärkt haben, indem sie sie ausrüsteten und ihrem Treiben tatenlos zusahen. Tatsächlich arbeiten die amerikanischen Truppen bei ihren Operationen eng mit solchen Figuren zusammen, da diese mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut sind. Bei gemeinsamen Aktionen erbeutete Waffen wurden regelmässig an die lokalen Milizen weitergeleitet. Diese Praxis hat die Armee nach eigenen Angaben erst kürzlich gestoppt, weil sie die Rolle der Zentralregierung untergrub. Seit einiger Zeit legen die Vertreter der USA zudem ihre Gleichgültigkeit gegenüber lokalen Fehden ab und beziehen deutlicher Stellung als früher. In der östlichen Provinz Khost beispielsweise wurde der Warlord Pasha Khan Zadran, ein notorischer Störefried, fallengelassen, und Ende Oktober intervenierte der amerikanische Sondergesandte für Afghanistan, Khalilzad, in einem blutigen Streit zwischen rivalisierenden Faktionen in der nördlichen Stadt Mazar-e Sharif.


Qu.: NZZ 13.1.2002

 

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Deutsch
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Veröffentlicht am
13.11.2002
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