Mögliche Auswirkungen des türkischen EU-Beitritts auf die arabische Welt

schreibt der arabische Soziologe Sadik al-Azm (auch in dem Sammelband "Die arabische Welt", 2004 Palmyra Verlag)

Der mögliche EU-Beitritt der Türkei hat jetzt schon Auswirkungen auf die arabische Welt. Dort gilt das Land, wie der Philosoph und Soziologe Sadik al-Azm* darlegt, heute als Modell – unter Linken, Islamisten wie Nationalisten zugleich.

Die Türkei ist in der islamischen Welt nicht nur das einzige Land, dessen Politik auf einem ausgereiften Säkularismus beruht. Sie ist zugleich auch die einzige größere Gesellschaft, die eine demokratische islamische Partei hervorgebracht hat, vergleichbar etwa mit den christdemokratischen Parteien Europas – eine Partei, die an die Macht kommen konnte, ohne dass das dem politischen System zum Verhängnis geworden wäre.

Diese neue Entwicklung führt zu einem interessanten Paradoxon: Ausgerechnet die derzeit regierenden türkischen Islamisten setzen sich am eifrigsten für die Aufnahme in die Europäische Union ein – einen "christlichen Club", wie Giscard d'Estaing sie einmal nannte. Dagegen versucht das türkische Militär, einen Beitritt zur säkularen EU mit allen Mitteln zu verhindern, obwohl die Armee traditionell als loyalster Hüter des türkischen Säkularismus gilt. Was bedeutet das?

Eindeutig hofft die demokratische islamische Partei darauf, dass eine EU-Mitgliedschaft dazu beitragen wird, die traditionelle Einmischung der Militärs in die Angelegenheiten des Staates zu beenden. Die Generäle wissen das sehr wohl und reagieren entsprechend. Deswegen würde die EU allen Beteiligten einen nachhaltigen Dienst erweisen, wenn sie die Türkei an die Hand nähme, um sie durch eine schwierige Übergangszeit zu begleiten.

Bemerkenswert sind die Reaktionen auf das aktuelle türkische Paradox in der arabischen Welt, dem Herzland des Islam. Insbesondere die arabische Linke hasste früher die Türkei, aus mehreren Gründen: Erstens war die Türkei während der gesamten Zeit des Kalten Krieges ein Verbündeter des Westens, zweitens war sie Vollmitglied der Nato, drittens war sie ein erbitterter Gegner der Sowjetunion wie auch des Kommunismus, viertens unterhielt sie freundschaftliche Beziehungen zum Staat Israel, den sie anerkannt hatte.

Heute jedoch betrachtet die arabische Linke die Türkei als das einzige Land, in dem die mittlerweile auch von ihr hochgehaltenen Werte des säkularen Humanismus zumindest teilweise Fuß gefasst haben. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich vor einiger Zeit erlebte, wie einige meiner altlinken Freunde und Kollegen das demokratische Experiment der Türkei als mögliches Vorbild priesen – sie hatten früher keine Gelegenheit ausgelassen, alles, wofür dieser Staat stand, zu verurteilen.

Auch die gemäßigten arabischen Islamisten orientieren sich neuerdings am türkischen Modell. Früher verachteten sie die moderne Türkei und prangerten sie wegen der Abschaffung des Kalifats und ihrer säkularen, kemalistischen, nationalistischen und prowestlichen Haltung an. Heute jedoch betrachten sie die Entwicklung des modernen politischen Islam in der Türkei, die in dessen demokratischer Machtübernahme gipfelte, als einen Weg, den auch die bislang erfolglosen islamischen Bewegungen in den arabischen Ländern einschlagen sollten.

Vorbild für Ägypten

So haben etwa schon mehrfach islamistische Kritiker und Kommentatoren die ägyptischen Muslimbrüder öffentlich kritisiert, weil diese in den letzten dreißig Jahren hauptsächlich durch ihre Denkfaulheit, politische Ineffizienz und organisatorische Trägheit aufgefallen seien, während der politische Islam in der Türkei große Erfolge zu verbuchen habe. Und tatsächlich hätten die Muslimbrüder ohne das türkische Vorbild wohl niemals den Willen besessen, ihre fortschrittliche Reform für Ägypten vorzulegen. Darin ersetzen sie die Idee eines religiös geführten Staates durch das Konzept der "Zivilregierung" und fordern im Prinzip ein religiös neutrales Staatswesen mit freien Wahlen, Gewaltenteilung und allen bürgerlichen Freiheiten.

Auch die arabischen Nationalisten haben die Türkei immer wieder verurteilt, zum Teil aus den gleichen Gründen wie die Linken und Islamisten. Hinzu kamen jedoch erstens die zähen Ressentiments aus der Zeit, als die Jungtürken die verbliebenen arabischen Provinzen des alten Reiches "türkisieren" wollten, und zweitens die feste Überzeugung, dass die Rückständigkeit der Araber auf das zurückzuführen seien, was sie als die lange, fortschrittsfeindliche türkische Okkupation bezeichneten.

Aber sogar die Nationalisten haben ihre Meinung zur Türkei mittlerweile revidiert. Denn sie sehen, dass die türkische Spielart des Nationalismus – im Gegensatz zu ihrer eigenen – ein voller Erfolg war. Sie erkennen inzwischen an, dass die frühen strategischen Entscheidungen und historischen Weichenstellungen der Türkei, die sie einst so leidenschaftlich verachteten, den nationalen Interessen der Türkei durchaus dienlich waren.

Im Grunde sind sie neidisch, dass all das, was sie? sich für die eigene Nation gewünscht hatten, in einem muslimischen Nachbarland viel besser gelungen ist als bei ihnen. Und heute verkünden sie öffentlich, dass es sowohl für sie selbst als auch für andere ratsam wäre, von dem Erfolg des türkischen Nationalismus im staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich zu lernen.

Haltung im Irakkrieg

Als die USA im Frühjahr 2003 die Invasion des Irak vorbereiteten, wollten sie eigene Truppen auf türkischem Boden stationieren, doch das türkische Parlament wies den entsprechenden Antrag ab. Die US-Regierung musste dieses Votum hinnehmen, denn es kam von einem echten, aus freien, demokratischen Wahlen hervorgegangenen Parlament, und nicht einmal die kriegslüsterne Regierung Bush konnte die Legitimität und Repräsentativität dieses Parlaments anzweifeln.

In der arabischen Welt war das Volk voller Bewunderung für diese Haltung, und nicht selten war der vielsagende Kommentar zu hören: In welchem Land gibt es schon einen König oder Staatschef, der dem US-Präsidenten mitteilen kann: "Mein Parlament hat dem Antrag ihrer Regierung nicht nachgegeben", ohne dass der Präsident ihm ins? Gesicht lachen würde.

DER STANDARD 18/19.11.2004

 

 

 

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Veröffentlicht am
18.12.2004
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