Arztberuf in der Krise. Vom Suchen und Finden der "guten" Medizin

Wir können unsere endliche und gebrechliche Verfassung nicht ändern. Wir können und sollen in ihr leben und sie gestalten, das heißt auch verbessern, aber wir können nichts Grundsätzliches ändern.


Autor: Ewig S
Verlag: Stuttgart: Georg Thieme
Erschienen: 2015

Zum Inhalt

 

Dass es thematische Wellenbewegungen  nicht nur in der Belletristik, sondern auch in der Fachliteratur gibt, ist nichts Neues. Vor nicht allzu langer Zeit boomte die Auseinandersetzung mit dem Thema Trauer, Trauerarbeit, Trauerbegleitung, Trauergruppen, Trauer in Träumen.. Nun dominiert die Fokussierung auf den Arztberuf: Medizin ohne Maß, Wider die ärztliche Kunst, Heilkunst, Gehirn und Moral und nun Arztberuf in der Krise. Während sich die genannten Werke mit förderlichen Einstellungen wie Besonnenheit und Verantwortlichkeit, mit Mut und Menschlichkeit,  mit dem sorgfältigen Verhalten, mit den Zusammenhängen zwischen Gehirn und Geist, mit Neuroethik beschäftigen, geht es im vorliegenden Buch um die Rahmenbedingungen. Der Autor - Arzt für Innere Medizin, Pneumologie, Intensivmedizin und Infektologie – sagt dazu im Vorwort, dass er schon lange über die Medizin reflektiert. „ Unter der Hand ist daraus eine Art Verteidigung des Anspruchs auf einen geschützten kommunikativen Raum von Arzt und Patient als Kernelement einer „guten“ Medizin geworden. Diese beinhaltet eine klare Absage an eine primär ökonomisch verfasste Medizin und ihre Ideologie vom Patienten als Kunden.“ Der Arzt ist nicht Anbieter und der Patient kein Kunde, sondern der Arzt ist Therapeut und Anwalt des Patienten, dessen Autonomiewunsch respektiert werden muss – mit allem Mitbedenken möglicher Einschränkungen der Autonomie. Jedenfalls geht es um einen Abschied von hochtechnisierter Medizin und ein demütiges Eingehen auf den einzelnen.
Der Autor macht mit dem Leser eine „Visite“ im Seniorenheim, in der Onkologie, in der Kardiologie, auf der Intensivstation, in der Psychiatrie, in einer ärztlichen Praxis und kommt zu dem Schluss, dass viel Aktionismus besteht und dafür aber ein Mangel an Aussprache.
Der Autor macht mutige Vorschläge, z.B. nach dem Seniorenbesuch : Intensivierung der medizinischen Forschung, das Recht auf Patientenverfügung und die Möglichkeit des assistierten Suizids bzw. der aktiven Sterbehilfe.
Ewig zieht einen Bogen von Descartes´ Teilung  des Menschen in Körper und Geist. Der verobjektivierte Körper führt zum Maschinenmodell, der Körper kann und muss manipuliert werden. Die evidenzbasierte Medizin verschafft dem Maschinenmodell eine neue mathematische Grundlage. Die Forschungserkenntnisse schlagen sich in Leitlinien für das medizinische Handeln nieder. Metaanalysen stehen hoch im Kurs – aber, so der Autor in Bezug auf die Medizin, die keine reine Naturwissenschaft ist, sondern eine praktische Wissenschaft:“ Sie stößt bei allen Fragen an ihre Grenzen, die sich durch Standardisierung nicht bearbeiten lassen.“ (Seite 51)

Weitere Ausführungen betreffen rollenbezogene und organisatorische Überlegungen z.B. den Patienten als autonomen Kunden (als Herr der Lage, als Umworbenen), das Berufsbild des Arztes (Medizin als Job, die Abschaffung des Arztes), den Pflegeberuf (als technischen Assistenzberuf?), die Praxis als Unternehmen, das Unternehmen Krankenhaus. Andere Kapitel befassen sich mit grundsätzlichen Betrachtungen: Krankheit und Heilung, die Utopie vom krankheitsfreiem Leben, die therapeutische Beziehung, das Mystische der Therapie (ein teilweises Plädoyer für die Ergänzung durch Alternativmedizin), Kennzeichen einer guten Therapie (z.B. durch mehr Zeit für Gespräche, durch Förderung psychosomatischen Denkens), um nur einige Themen zu nennen. Ewig lässt auch das Verhältnis zum Tod nicht unberührt. Lesenswert sind auch die Ausführungen zum Spannungsfeld Universitätsbildung und Humanmedizin. Ein Kapitel über die Verbindung von Arztsein und religiöser Glaubenshaltung unterstreicht den großen Radius der Fachdiskussion in diesem Buch.

Ewigs Resümee ist gleichermaßen engagiert und herausfordernd auf der einen Seite, auf der anderen bescheiden und um die Grenzen des Machbaren wissend:" Aber ganz sicher ist hier zu erkennen, dass der Mensch sich nicht entkommen kann . Wir können unsere endliche und gebrechliche Verfassung nicht ändern. Wir können und sollen in ihr leben und sie gestalten, das heißt auch verbessern, aber wir können nichts grundsätzliches ändern. Jeder Versuch, unsere eigene Verfassung zu manipulieren, endet im Scheitern!" (Seite 246).

Ewigs Gedanken sind trotz des eingangs statuierten starken Aufkommens von Literatur zur Auseinandersetzung mit Medizin als Beruf und Berufung in vielen Punkten so noch nicht gesagt worden. Ewig beschreibt grundsätzliche Überlegungen aus ungewohnter Perspektive - ein Lesegewinn für Ärzte und Patienten!

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Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
21.03.2015
Link
https://pup.schule.at/portale/psychologie-und-philosophie/news/detail/arztberuf-in-der-krise-vom-suchen-und-finden-der-guten-medizin.html
Kostenpflichtig
nein