Schüler mit psychisch kranken Eltern. Auswirkungen und Unterstützungsmöglichkeiten im schulischen K

Etwa drei Millionen Kinder haben einen kranken Elternteil, zwei Millionen davon gehen in die Schule und 280 000 Schülern und Schülerinnen wird diese Krankheit durch entsprechende Erlebnisse bewusst!


Autorin: Brockmann E u Lenz A

Verlag: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Erschienen: 2016

Zum Inhalt

Die Leiterin einer Beratungsstelle fü Eltern, Kinder und Jugendliche und der Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie, beide tätig an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, haben ein wichtiges Thema aufgegriffen, wie ihnen der Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Frank Nestmann im Vorwort attestiert: Etwa drei Millionen Kinder in Deutschland haben einen kranken Elternteil, zwei Millionen davon gehen in die Schule und 280 000 Schülern und Schülerinnen wird diese Krankheit durch entsprechende Erlebnisse bewusst!

Das Buch geht zunächst von der gegenwärtigen Situation aus, beschreibt die  Wechselwirkungen zwischen schulischer und familiärer Belastung. Diese wird im Folgekapitel  noch eingehender im Hinblick auf die betroffenen Kinder dargestellt: Neben den objektiven Belastungsfaktoren (wie z.B. mangelnde Inanspruchnahme professioneller Unterstützungen), sind es insbesondere die subjektiven Belastungen, die Kindern zu schaffen machen. Dazu zählen Tabuisierung der elterlichen Erkrankung, soziale Isolation, die Rollenumkehr in der Parentifizierung u. v. a. m. Auffallend ist, dass den Risikofaktoren in der Inhaltsübersicht nicht mehr Bedeutung zugemessen wird als den hilfreichen Faktoren: Resilienz, Schutzfaktoren (hier wird die Lehrerrolle sehr wichtig genommen). Die Autoren bringen origineller Weise das Einnehmen einer "holding-function" ins Spiel, ebenso den Gedanken einer Förderung von Empowerprozessen und die Errichtung eines Unterstützungs-Netzwerkes. Die "holding function" ist eine wichtige Unterstützung bei der psychotherapeutischen Konsolidierung z.B.  bei der Heilung von Konflikt-, Trauma- und Strukturpathologien. Das Bild des Lehrers ist hier ein Mensch, "der dem Schüler durch eigenes besonnenes Reagieren aus einer gefestigten Persönlichkeit heraus Halt geben muss" (Seite 109). Diese anspruchsvolle Haltung und Emotionskontrolle stellt eine  hohe Anforderung an den Lehrer dar. Der Empowerment-Gedanke geht unter anderem davon aus, dass es in jedem System Freiheitsgrade der individuellen Gestaltung gibt. Diese bewusst zu machen und schließlich auch in die eigene Verantwortung einzubeziehen, ist die wichtige mesostrukturelle  (zwischenmenschliche und Individuum und Sozialstruktur betreffende) Ergänzung zur mikrostrukturellen holding-function. Hier sind sich die Autoren der engen zeitlichen Rahmenbedingungen bewusst, die eine intensive Beratungsunterstützung und das Hinführen zu eigenen Lösungen verhindern. Ein ganz bedeutsames Konzept liegt in der Idee des psychosozialen Unterstützungsnetzwerkes vor. Diese geht über das Krisenteam, die Helferkonferenz etc. hinaus und leistet nicht nur kooperative Hilfe für die Gesunden, sondern auch tatkräftige Unterstützung für die Bewältigung von Belastungen, " so dass praktische Hilfen im Haushalt ebenso hilfreich und notwendig sein können wie sozialpädagogische Familienhilfen oder Familientherapien (Seite 113).

Um sich in die Situation der Betroffenen besser hinein versetzen zu können, ist eine Untersuchung der subjektiven Problemperspektiven notwendig. Diese steuert die Autorin mit der Darstellung ihrer Dissertation bei, in der sie eine Untersuchung von zehn Kindern durchführte, wobei eine möglíchst hinsichtlich mehrerer Kriterien heterogene Zusammenstellung realisiert wurde. Eine wertvolle Übersicht über die Untersuchungsergebnisse bei den Kindern findet sich auf Seite 128f, für Eltern auf Seite 143f und für Lehrer auf Seite 163f. Zentraler Inhalt bei allen Überlegungen ist die Enttabuisierung.

Konsequent wird als Schlusskapitel die Frage aufgeworfen, welche konkreten Handlungsempfehlungen sich daraus für schulische Alltagspraxis ergeben. Hier werden überwiegend kommunikationsförderliche Hinweise eingebracht.

Kein Zweifel: Die 200 Seiten des Buches sind locker und verständlich geschrieben, enthalten aber viele Anregungen, deren Umsetzung viel Engagement und Unterstützung vom System her erforderlich machen.

Das ist übrigens ein "kritischer" Punkt des gesamten Anliegens: Die gefestigte Lehrerpersönlichkeit, die Systemtransparenz in Bezug auf Freiheitsgrade und das Errichten eines Unterstützungsnetzwerkes sind keine "leichten" Vorhaben. Die holding function gehört zu den anspruchsvollsten therapeutischen Handlungsweisen (auf Seite 180f wird auf die mögliche Unterstützung durch Fachkräfte hingewiesen); die Systemtransparenz zur Bewusstmachung von Empowerment-Chancen ist möglich, wenn das System "durchschaut" wird, erfordert also viel Erfahrung. Das Netzwerk ist eine Herausforderung zur Errichtung biopsychosozialer Nischen, die zentrale Idee einer Enttabuisierung müsste aber diskutiert werden, z.B. welche Spannnungsfelder ergeben sich zum Datenschutz, bewirkt die Kenntnis über den Leidenshintergrund schon ein achtungsvollen Umgehen mit diesem anvertrauten Wissen, wie wirkt sich das "Krankheitsetikett" auf die Gruppendynamik in der Klasse aus, insbesondere auf nicht krankheitsbedingtes destruktives Verhalten (wie z.B. Mobbing)?

Das Buch atmet viel Idealismus: Das ist kein verstecktes Urteil über die "Unwirklichkeit" der Vorschläge, sondern vielmehr ein Lob für den Mut, Heuristiken zu entwerfen, den Einsatz und Einbau empirischer Forschung nicht zu scheuen und bei allen Mitgliedern der Gesellschaft einen Geist der Mitverantwortung anzuregen!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
09.06.2016
Link
https://pup.schule.at/portale/psychologie-und-philosophie/news/detail/schueler-mit-psychisch-kranken-eltern-auswirkungen-und-unterstuetzungsmoeglichkeiten-im-schulische.html
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