Heul doch

Lange Zeit ist nicht ganz klar, ob die Ich-Erzählerin tatsächlich vor zwölf Jahren, als ihr kleiner Bruder starb, vom Vater missbraucht wurde, denn sie ist eine unzuverlässige Berichterstatterin, die mit ihrer Zuhörerschaft spielt. Wenn sie behauptet AIDS zu haben, so is ...

Lange Zeit ist nicht ganz klar, ob die Ich-Erzählerin tatsächlich vor zwölf Jahren, als ihr kleiner Bruder starb, vom Vater missbraucht wurde, denn sie ist eine unzuverlässige Berichterstatterin, die mit ihrer Zuhörerschaft spielt. Wenn sie behauptet AIDS zu haben, so ist das nur eines ihrer Gedankenspiele, unentwegt sieht sie sich zwischen Rollen und der Wirklichkeit gefangen, unentwegt erfindet sie Schicksale und gleichzeitig stellt sie den Alltag, die kaputten Eltern, die Beziehung zum "Türken", die Schule, sich selbst kompromisslos und ohne Schnörksel dar. Allmählich aber verdichtet sich, dass Teil ihres eigenen Kaputtseins auf den Missbrauch zurückgeht, aber selbst der provozierte Eklat wird nur als Störung der Familienidylle empfunden.

Was aber den Kurzroman wirklich lesenswert macht, das ist die authentische Stimme des Mädchens. Als Lehrer stelle ich mir vor, wie sie wohl in der Schule wirken würde – eher unauffällig, bisweilen mürrisch, keinesfalls aber so, wie sie – mit einem reichen und differenzierten Innenleben ausgestattet - wirklich ist. Und als Lehrer nehme ich auch die Lektion an: die Vereinfachung auf das Sicht- und Hörbare ist immer ein Fehler.

Zorn und Hilflosigkeit, Schein und Sein, Wahrnehmung und Wahrgenommenwerden, Fantasien und Realität gehen in diesem Roman ein wundersam gelungenes Wechselspiel ein, das auch für Klassenlektüre vielerlei grundsätzlichen Diskussionsstoff übrig lässt. Hoffentlich liegt das Buch bald in einer erschwinglicheren Ausgabe vor – bis dahin: für die Bibliothek anschaffen!

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/detail/heul-doch.html
Kostenpflichtig
nein