Europa und die Türkei

ein Kommentar zum EU-Gipfel in Kopenhagen, 14.12.2002, der die EU-Erweiterung nach Osten brachte

Europa und die Türkei -


Zur Situation anlässlich des EU-Erweiterungsgipfels in Kopenhagen

«Wie stolz ist, wer sagen kann, ich bin ein Türke!» - der Satz prangt in grossen Lettern zehntausendfach auf Strassen und Plätzen in Städten und Dörfern der Türkei. Mit diesem Wahlspruch wollte der Republikgründer Atatürk nach dem Untergang des Osmanischen Reichs die türkische Nation aufrichten. Der Satz begleitet die Türken immer noch, erinnert sie täglich daran, dass sie von Staats wegen stolz zu sein haben. Dahinter lauert der Hinweis aufs Gegenteil: Die türkische Gesellschaft ist bis heute geplagt von einem Mangel an Selbstbewusstsein, von einem kollektiven Minderwertigkeitskomplex. Aus dieser Gefühlslage heraus wird für die Türken die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zur Ehrensache. Der Beitritt brächte den Beweis, dass sie als Nation «europäischen Standard» erreicht haben, der Beginn von Verhandlungen wäre immerhin eine provisorische Anerkennung. Es geht aus türkischer Sicht um viel mehr als nur Bündnispolitik und Wirtschaftsraum, nämlich um die Bestätigung für die Vollwertigkeit als europäische Nation.

Das Streben von orientalischer Rückständigkeit nach europäischer Modernität ist die grosse Entwicklungslinie der türkischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Dieses Streben hat schon zur Zeit der Sultane begonnen; der Eisenbahnbau im späten Osmanischen Reich war Ausdruck des Drängens nach Fortschritt und Erneuerung. Später setzte Atatürk seine Republik aus Versatzstücken europäischer Provenienz zusammen: französischer Zentralismus, deutsche Militärordnung, schweizerisches Zivilgesetz, dazu Grossprojekte sowjetischen Stils, alles zusammen gestützt auf europäische Nationalstaatsideologie. Mit dem Wechsel von der arabischen zur lateinischen Schrift setzte er ein unmissverständliches Zeichen für seinen unbedingten Willen zur Verwestlichung des Landes - mit der Schrift sollte es zugleich den Kulturkreis wechseln, mit der Vergangenheit brechen.

Wenige Völker haben sich so viel vorgenommen. Die Modernisierung der Türkei wurde über viele Jahrzehnte forciert, oben verordnet von Präsidenten, Generälen, Richtern, Beamten, unten vollzogen nach Befehl, aus untertänigem Gehorsam, aber auch aus Einsicht in Sinn und Zweck des Fortschritts in Richtung Westen. Ohne einen breit abgestützten Konsens in der Bevölkerung wäre dieses Unternehmen längst gescheitert. Nicht in allen Punkten gelang die Modernisierung, in manchen blieb sie oberflächlich. Es gibt Rückschläge, unvorhergesehene Erscheinungen und gegenläufige Prozesse. Zum Beispiel in Istanbul: Durch Zuwanderung aus dem Landesinnern wächst die Metropole immer mehr - und dabei überlagert die bäurische Lebensweise das städtische Gepräge. Die Weltstadt am Bosporus gleicht in vielen Quartieren einem riesigen anatolischen Dorf. Umgekehrt verwandeln sich die Dörfler allmählich in Städter. Solche Spannungen sind unvermeidlich und bezeichnend für den Wandel der türkischen Gesellschaft auf ihrem Weg von Ost nach West.

Da tönt es von Westen: «Die Türkei ist kein europäisches Land.» So sagte es unlängst, kurz und klar, der frühere französische Präsident Giscard d'Estaing. Er fügte an, die Aufnahme der Türkei würde sogar das Ende der Europäischen Union bedeuten. Giscard sprach damit aus, was viele führende Politiker dachten, aber nicht zu sagen wagten. Es geht nicht in erster Linie um geographische Abgrenzung, sondern - unausgesprochen - um Religion und «Werte», was immer man darunter verstehen mag. Die Türkei ist ein muslimisches Land, die Europäische Union aber ein «christlicher Klub», jedenfalls im Verständnis führender christlich-demokratischer Politiker und vermutlich auch einer Mehrheit der Bevölkerung. Die «Türkengefahr», die Urangst vor islamischer Eroberung, spukt anscheinend immer noch im christlichen Europa, obwohl sie längst nicht mehr existiert. Auch dies ist ein Komplex aus der Vergangenheit mit Auswirkungen für die Gestaltung von Europas Gegenwart und Zukunft.

Die Gegner eines Einbezugs der Türkei in die Europäische Union spielen gerne mit diesem Angstkomplex. Sie reden etwa von der «dritten Belagerung Wiens» durch türkische Einwanderer, die bereits in vollem Gange sei; wenn die Türkei erst zur Union gehöre, sei kein Halten mehr, dann werde Europa von den Türken überschwemmt. Sicher, das Land ist mit 70 Millionen Einwohnern ein «grosser Brocken». Aber die bisherigen Erweiterungen haben keine Völkerwanderungen ausgelöst, und auch die neueste Runde dürfte diese Erfahrung bestätigen. Ein anderes Argument der Gegner lautet, die Türkei sei ein Armenhaus und als Sanierungsfall für die Europäische Union nicht zu verkraften. Da wird wohl das wirtschaftliche Potenzial gerade dieses Schwellenlandes unterschätzt.

Aber die Frage bleibt: Warum ist die Türkei trotz allen Modernisierungsanstrengungen in den letzten zehn Jahren wirtschaftlich nicht recht vorangekommen, sondern vielmehr in die Krise geraten? Der Hauptgrund war wohl der Krieg gegen die Kurden in Ostanatolien. Er forderte nach offiziellen Angaben 36 000 Tote, zudem kostete er den Staat über 100 Milliarden Dollar; das entspricht fast der Hälfte der Staatsschuld von 260 Milliarden. Die Wirtschaftsprobleme der Türkei sind zu einem wesentlichen Teil auf diesen Kräfteverschleiss bis zur Erschöpfung zurückzuführen - ein Versagen der Politik.

Es gibt heute viele Anzeichen, dass die türkische Politik in eine Phase der grundlegenden Erneuerung eingetreten ist. In den Wahlen wurden diejenigen Parteien, die das Land in den Sumpf geritten hatten, aus Parlament und Regierung verbannt. Mit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung des gemässigten Islamisten Erdogan kam eine Formation an die Macht, die nicht die verbrauchten Eliten repräsentiert, sondern neue Kräfte. Nach allem, was man bisher weiss, plant diese Partei nicht, einen «Gottesstaat» zu errichten, sondern einen Rechtsstaat nach demokratischen Regeln, der den religiösen und sozialen Vorstellungen des Islams Rechnung trägt.

Die wichtigste Opposition zur neuen Regierungspartei ist die Armee. Die Generäle haben sich bisher als Wächter über den Staat verstanden. Aber seit sie in ihrem teuren Krieg nicht den Sieg erringen konnten, sondern ein Patt hinnehmen mussten, ist ihre Selbstherrlichkeit angeschlagen. Sie haben in den letzten Jahren eine sukzessive Aufweichung der rigiden Staatsideologie zugelassen. Sie scheinen bereit, den Kurden und anderen Minderheiten mehr Rechte einzuräumen und auch die gemässigten Islamisten zu dulden. Unter solchen Voraussetzungen ist zu erwarten, dass die noch keineswegs befriedigende Menschenrechtsbilanz der Türkei sich weiter verbessert.

Wenn die neusten Verfassungsreformen umgesetzt und die Menschenrechte geachtet werden, erfüllt die Türkei die Vorbedingungen für Beitrittsverhandlungen, die die Europäische Union gesetzt hat. Damit gerät diese in Zugzwang: Die Türken wollen endlich Klarheit darüber, ob sie im «Klub» wirklich willkommen sind oder eben doch nicht, trotz allen bisherigen Zusicherungen. Die Befürworter einer Aufnahme weisen auf die offensichtliche strategische Bedeutung der Türkei hin: Als regionale Vormacht im Nahen Osten beherrscht sie die Landbrücke zwischen Asien und Europa, eine der alten Seidenstrassen, und damit eine künftige Hauptroute für den Transport von Erdöl. Solche Überlegungen sind für viele Politiker und Geschäftsleute ausschlaggebend. Aber sie reichen wohl nicht aus, die Islam-Bedenken von grossen Teilen der westeuropäischen Bevölkerung zu zerstreuen. Das ist, wenn überhaupt, nur möglich, wenn die europäische Öffentlichkeit sich von der weiteren Annäherung der Türkei an den «europäischen Standard» überzeugen kann - und dazu braucht es Zeit.

Des Wartens überdrüssig, haben sich in den letzten Jahren viele Türken von ihrer lange gepflegten Europa-Euphorie verabschiedet, manche mit einem Gefühl der Kränkung. Aber an ihrem Modernisierungskurs wollen sie festhalten: «Die Reformen brauchen wir ohnehin - wenn nicht für die Europäische Union, dann halt für uns selbst», sagt ein Geschäftsmann in der anatolischen Provinz. In dem Satz schwingen Stolz und Trotz mit, auch neue Selbstsicherheit. Mit der Überwindung der Komplexe auf beiden Seiten werden die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei einfacher.

aus NZZ vom 14.12.2002

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Deutsch
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Veröffentlicht am
14.12.2002
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