Shylocks Tochter

"Aus der grauen Raupe war ein Schmetterling geworden. Sie musste sich nur noch daran gewöhnen." (124) So denkt Jessica, Shylocks Tochter, als sie sich ihrer Liebe zu Lorenzo, dem verschwenderischen Christen, sicher fühlt. Das ist auch genau ihr Problem: dass sie als Tochter eines aschkenasischen ...

"Aus der grauen Raupe war ein Schmetterling geworden. Sie musste sich nur noch daran gewöhnen." (124) So denkt Jessica, Shylocks Tochter, als sie sich ihrer Liebe zu Lorenzo, dem verschwenderischen Christen, sicher fühlt. Das ist auch genau ihr Problem: dass sie als Tochter eines aschkenasischen Juden wenig von Lebensfreude verspüren darf. Da haben es die sefardischen Juden schon besser, und um wie viel besser noch haben es die Adeligen und Kaufleute des Venedig im Jahre 1568 (bzw. 5327/28). Jessica sehnt sich so sehr nach diesem anderen Leben außerhalb des Ghettos, dass sie schließlich ihren Vater bestiehlt und mit Lorenzo, der sie heiratet, flüchtet. Shylock bleibt verbittert zurück und verliert im bekannten Streit um das Pfund Fleisch.

Presslers Figuren haben wenig vom Schwung, vom Pathos und vom Berauschenden der Shakespeare-Welt. Jessicas unbestimmtes Sehnen nach Freiheit wird nicht nur durch ein Verbrechen erkauft, es lässt sie vorderhand auch völlig entwurzelt zurück; zu stark hat sich die jüdische Tradition in ihr verankert. Shylock ist ein verbitterter, alter Mann, dem die wenigen, die er liebt, sterben oder enteilen. Seine Bitternis, die durchaus ihre berechtigten Wurzeln hat, schickt ihn noch einmal auf Wanderschaft. Und auch Dalila, die einst Jessicas beste Freundin war, verlässt das Ghetto für eine unbestimmte Zukunft.

Pressler lässt die Figuren in den Strom der Zeit entschwinden, wir erfahren nichts über ihr weiteres Schicksal. Wir lernen aber den Alltag der Juden im Ghetto Venedigs kennen, geprägt durch starke Traditionen und lange Anfeindungen. Sie präsentieren sich uns weder besonders liebenswürdig noch besonders fremd, sondern einfach als eine Gruppe Menschen, die wegen ihrer Geschichte und ihrer Religion viel Leid ausgesetzt sind. Pressler hat das mit Kenntnisreichtum (vgl. das Glossar) und Liebe zum Detail geschildert. Es ist "eine sehr lange und sehr jüdische Geschichte" (207) geworden - und es ist obendrein eine höchst lesenswerte Geschichte geworden.
(GF15/6-1999)

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Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
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https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/detail/shylocks-tochter.html
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