#NoExcuseForAbuse: Schülerinnen entwickeln eigene Kampagne gegen sexuelle Gewalt an Frauen
Als im Englischunterricht des letzten Jahres in der 7. Klasse das Thema Crime & Violence auf dem Programm stand, widmete sich die Klasse speziell dem Thema sexueller Gewalt gegen Frauen. Als Einstieg reflektierten die SchülerInnen in einer anonymen Umfrage selbst über ihre Erlebnisse mit sexueller Gewalt an Frauen. Es zeigte sich, dass beinahe jede der jungen Frauen in der Klasse bereits sexuelle Gewalt durch Männer erleben musste. In einem nächsten Schritt beschäftigte sich die Klasse mit Kampagnen aus dem englischsprachigen Raum, wie beispielsweise der That-Guy campaign von Police Scotland, #whowillyouhelp, Teil der "It's never ok" Kampagne der Regierung von Ontario und #Enough, Teil der Enough. Kampagne der Britischen Regierung. Die SchülerInnen reflektierten diese Kampagnen und diskutierten darüber, ob sie diese Kampagnen als überzeugend empfanden.
Start der eigenen Kampagne
Schließlich entschloss sich die Klasse dazu, unter dem Hashtag #NOEXCUSEFORABUSE ihre eigene Kampagne zu starten um das Bewusstsein für sexuelle Gewalt an Frauen zu schärfen und den MitschülerInnen an der eigenen Schule eine Stimme zu geben. Die Klasse entwarf in weiterer Folge zwei Fragebögen, einen für die Mitschülerinnen und einen für die Mitschüler. Der Fokus im Fragebogen für die Schülerinnen lag darauf herauszufinden, welche Erfahrungen sie bereits mit sexueller Gewalt gemacht hatten. Neben einigen geschlossenen Fragen gab es auch die Möglichkeit, im Rahmen offener Fragen, Details über solche Erlebnisse zu teilen. Hier wurde das Thema also aus Sicht der Opfer betrachtet. Der Fokus im Fragebogen für die Mitschüler lag darauf herauszufinden, an welchem Verhalten sich die Schüler (oder ihre Freunde) bereits einmal beteiligt haben. Das Spektrum reichte dabei von Anstarren über Nachpfeifen bis zu obszönen Nachrichten und unerwünschten Berührungen. Hier wurde das Thema aus Sicht der Täter bzw. Zeugen von sexueller Gewalt betrachtet.
Ergebnisse
131 SchülerInnen füllten die anonymen Fragenbögen aus und teilten ihre Erfahrungen. Es zeigte sich ein – zwar zu erwartendes, aber nicht minder – erschreckendes Bild: 62% aller Mädchen gaben an, dass sie bereits einmal von einem Mann in eine Situation gebracht wurden, in der sie sich unwohl fühlten. Die Hälfte dieser Mädchen gab an, dass dies durch unerwünschte Berührungen (24.53%) oder Cat-Calling (26.42%), also Nachrufen oder Nachpfeifen, im öffentlichen Raum geschah – in ca. der Hälfte der Fälle schritt niemand ein. Nur 11.52% der Burschen gaben an, dass sie noch nie irgendeine Form von sexueller Gewalt an Frauen gesehen haben. Mehr als die Hälfte gab zu, schon einmal das Aussehen eines Mädchens kommentiert zu haben. Mehr als zwei Drittel aller Burschen sagte außerdem, dass sie in einer Situation, in der sie Zeuge von sexueller Gewalt an Frauen wurden, nicht eingeschritten sind.
Aufarbeitung der Ergebnisse
Die Ergebnisse dieser Umfrage wurden anschließend aufgearbeitet. Die Klasse arbeitete in Gruppen und jede Gruppe hatte eine andere Aufgabe. Eine Gruppe wertete die Ergebnisse der Umfrage aus und visualisierte die Ergebnisse. Eine andere Gruppe sah sich die Antworten auf die offenen Fragen an und erstellte sog. Testimonials in Form von Videos, Postern oder Audios, die die Erfahrungen der Mädchen mit sexueller Gewalt widergeben. Eine dritte Gruppe versuchte eine möglichst einfache aber genaue Erklärung für sexuelle Gewalt zu entwerfen und darauf aufmerksam zu machen, dass auch Verhalten, welches von vielen Männern wohl nicht als unangebracht eingestuft wird, für Frauen sehr wohl problematisch sein kann. Eine andere Gruppe erarbeitete das TAKE-CARE Modell, ein Modell, das verschiedene Strategien und Tipps für Opfer und ZeugInnen sexueller Gewalt beinhaltet und eine letzte Gruppe erstellte eine Website für die Kampagne, auf der die Ergebnisse veröffentlich wurden.
Üben vielfältiger Kompetenzen
Im Zuge dieses Projektes trainierten die SchülerInnen, neben ihren Sprachkenntnissen, auch viele andere Kompetenzen. Zur Reflexion über eigene und fremde Erfahrungen mit Missbrauch, zum Bewerten versch. Kampagnen aus dem Ausland und zum Auswählen und Zusammenstellen von Informationen und Medien für die Kampagne war kritisches Denken notwendig. Um sich einen Slogan für die Kampagne einfallen zu lassen, versch. Ergebnisse aus dem Fragebogen aufzuarbeiten, und zu gestalten und zu entscheiden wie die Website aufgebaut werden soll, brauchte es Kreativität. Zusammenarbeit und Kommunikation miteinander als Klasse und in den einzelnen Gruppen waren in diesem Projekt ebenso unabdingbar wie digitale Kompetenzen, z.B. zum Erstellen der Grafiken, Videos und Webseite. Aber auch soziale Kompetenz, wie etwa ein einfühlsamer und respektvoller Umgang mit den Erfahrungen anderer, spielten in diesem Projekt eine wichtige Rolle.
Auch dem Lehrplan wurde mit diesem Projekt in mehreren Bereichen Rechnung getragen. Zum einen genießt die Vermittlung von Werten, die Gleichstellung der Geschlechter und die Gleichheit aller Menschen einen besonderen Stellenwert in verschiedensten Teilen des Lehrplans. Zum anderen fordert der Lehrplan beispielsweise auch das Erstellen eigenständiger, digitaler Arbeiten, das kritische Reflektieren über das eigene Handeln, das Übernehmen von Verantwortung und das Entwickeln von Initiativen.
Das Ergebnis dieses umfangreichen Projektes kann sich sehen lassen und soll nun als Grundlage für weitere Bewusstseinsbildung über dieses Thema am BG/BRG Ramsauerstraße dienen (beispielweise im Rahmen von Workshops).
Im Oktober 2023 wurde dieses Projekt vom BMBWF mit dem Media Literacy Award in der Kategorie Crossmedia ausgezeichnet. Die Jury lobte dabei vor allem „de[n] umfassende[n] multimediale[n] Ansatz - die Umsetzung des Themas auf verschiedenen Ebene mit verschiedenen Medien, unter anderem mit einer Umfrage, dem Entwickeln eines Modells zur Unterstützung der Opfer sowie Videoclips und Plakaten“ und die damit verbundene „Erfassung auch wenig bewusster Grenzbereiche von Missbrauch“.
Zur Projektbeschreibung
- Trilling, B., & Fadel, C. (2009). 21st century skills: Learning for life in our times (1st ed.). Jossey-Bass.
- Fadel, C., Bialik, M., Trilling, B., & Schleicher, A. (2017). Die vier Dimensionen der Bildung: Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen (J. Muuß-Merholz, Trans.). Verlag ZLL21 e.V. Zentralstelle für Lernen und Lehren im 21. Jahrhundert e.V.
Julia Weißenböck ist AHS-Lehrerin am BG/BRG Ramsauerstraße in Linz (OÖ) und Fachdidaktikerin für Englisch an der Universität Salzburg. Zu ihrem Arbeitsschwerpunkt, digitale Tools im Unterricht, bietet sie in ganz Österreich Workshops und Vorträge an.