Unterrichtsstörungen: Interventionen wirkungsvoll gestalten

Unterrichten ist sehr anspruchsvoll, ganz besonders, wenn SchülerInnen stören. Die in der Literatur immer wieder beschriebenen Interventionen wie Ermahnen und Sanktionieren bergen das Risiko, dass der betroffene Schüler und oft auch seine Eltern eine negative Haltung uns Lehrern gegenüber aufbauen. Der Schüler stört dann mehr, folgt unseren Anweisungen noch weniger und lernt weniger und schlechter. Die Zusammenarbeit mit seinen Eltern wird oft immer belastender. Der lösungsorientierte Ansatz bietet Ihnen ganz neue und sehr wirksame Möglichkeiten.

Chaos im Klassenzimmer der Grundschule

Ein Schüler stört immer wieder

Fallbeispiel: Fabian ruft immer wieder in den Unterricht, statt sich zu melden. So geht Frau Graf vor: Sie interveniert kurz im Unterricht, beobachtet aber vor allem, wann er es schafft, sich zu melden. Dazu hat sie sich eine Erinnerungskarte zugelegt.

Die Erinnerungskarte: Auf Ausnahmen achten

Name

Worauf ich achte

Der/die SchülerIn hat es geschafft

Fabian

Statt dazwischenrufen – sich melden

Dario

Statt zu spät kommen – pünktlich kommen


​​​​​​​Die Erinnerungskarte unterstützt uns dabei, darauf zu achten, wann es der Schüler gut macht.

Weil Frau Graf noch einige andere SchülerInnen hat, die sich häufig unangemessen verhalten, hat sie auf einer Erinnerungskarte notiert, auf welche Verhaltensweisen sie bei diesen SchülerInnen besonders achtet. Prioritäten haben hier die Verhaltensweisen, die uns am meisten belasten oder ärgern, z.B.:

  • Fabian ruft immer wieder dazwischen - weil mich das besonders stört, achte ich darauf, wann er sich meldet,
  • Dario kommt immer wieder zu spät - weil mich das besonders stört, achte ich darauf, wann er pünktlich kommt,
  • Nese steht einfach oft auf und läuft im Klassenzimmer umher - weil mich das besonders stört, achte ich darauf, wann sie länger als sonst am Platz sitzen bleibt,
  • Ahmed hält oft die Klassenregel A nicht ein - weil mich das besonders stört, achte ich darauf, wann er sie einhält,
  • Carla beleidigt immer wieder MitschülerInnen - weil mich das besonders stört, achte ich darauf, ob sie auch mal freundlicher zu ihnen ist, oder z.B. gemeinsam mit ihnen lacht, oder ihnen mal hilft. 

Wir können aber nicht bei fünf oder gar zehn SchülerInnen gleichzeitig darauf achten, was diese gut machen. Dazu ist Klassenführung viel zu anspruchsvoll.
Frau Graf beginnt schon in den ersten Tagen des neuen Schuljahres auf Ausnahmen bei den beiden Verhaltensweisen zu achten, die sie am meisten belasten. Denn zu Beginn eines neuen Schuljahres benehmen sich viele SchülerInnen angemessener als nach den ersten Wochen oder Monaten.

Prioritäten setzen
Wir können aber nicht bei zwanzig oder mehr SchülerInnen darauf achten, was alle gut machen. Gleich zu Beginn eines neuen Schuljahres achten wir besonders auf die SchülerInnen, die schon im letzten Schuljahr ihre Lehrperson mit ihrem Stören sehr belastet haben. Und zwar auf das, was uns am meisten stören könnte. Angenommen wir haben acht SchülerInnen mit sehr herausforderndem Verhalten. Am zweiten und dritten Schultag achten wir auf zwei SchülerInnen, die nächsten beiden Tage auf zwei andere, die nächsten beiden Tage auf zwei andere, dann die nächsten beiden Tage wieder auf zwei andere. Dann geht es wieder von vorne los. Natürlich können wir auch den anderen SchülerInnen unserer Klasse, die so gut wie nie stören und alles sehr gut machen, Anerkennung geben. In dem wir z.B. viel in unserem Klassenzimmer unterwegs sind, darauf schauen, was die SchülerInnen gut machen und ihnen kurz Anerkennung zuflüstern. Oder indem wir uns auch mal am Nachmittag digital bei ihnen melden und Anerkennung geben. Aber die Priorität liegt in den ersten Wochen des neuen Schuljahres klar bei denen mit herausforderndem Verhalten, die uns besonders belasten (Plevin 2018). 

Positives über den Schüler notieren – bessere Beziehung
Viele Lehrpersonen erleben, dass sich ihre Beziehung zu SchülerInnen mit sehr herausforderndem oder provozierendem Verhalten verbessert, wenn sie damit beginnen, ihm Positives mitzuteilen und es am Nachmittag in Ruhe kurz in ein Spezialbüchlein, z.B. mit einem Titel wie „Was meine SchülerInnen schon etwas besser machen“ notieren. Der Schüler stört in der Folge weniger und befolgt Anweisungen besser. Sogar Sanktionen sind bei einer guten Beziehung zum Schüler wirksamer (Haag, 2020). 

Die Rolle der Erinnerungskarte im Gespräch der Lehrpersonen
Wenn wir mit KollegInnen über einen Schüler mit sehr herausforderndem Verhalten sprechen, berichten zunächst alle, was sie schon an Positivem über diesen Schüler, notiert haben. Das relativiert das häufig bei einigen KollegInnen vorhandene negative Bild über diesen Schüler. Das erleichtert es, konstruktive Lösungen für sein herausforderndes Verhalten zu finden.

Lösungsorientierung

Über Jahrzehnte hat sich Psychotherapie vor allem mit Problemen und deren Analyse beschäftigt. Ganz anders der lösungsorientierte Ansatz (De Shazer, Dolan, 2021). Da steht im Vordergrund die Überlegung, wie Menschen ihre Ziele erreichen können. Und wenn es um Probleme geht, steht nicht die Suche nach deren Ursachen im Vordergrund, sondern ob es bereits Situationen gab, in denen das Problem weniger auftrat – in der Fachsprache die Suche nach „Ausnahmen“.

Fallbeispiel: Ein Raucher hat das Ziel, Nichtraucher zu werden. Vor einiger Zeit hatte er es schon einmal geschafft, weniger zu rauchen – er hat eine Ausnahme geschafft. Der Therapeut bespricht jetzt mit ihm, wie ihm das gelungen ist und was er tun kann, um das noch öfter zu schaffen. Es geht also darum, auf bereits vorhandenen Schritten in die richtige Richtung aufzubauen. Damit ist dieses Vorgehen ziel-, zukunfts- und ressourcenorientiert.

Ein gutes Gespräch beginnt mit einer motivierenden Einladung

Eine Einladung kann entscheidend dafür sein, ob ein Gespräch mit einem/r SchülerIn erfolgreich verläuft oder nicht.

Fallbeispiel: Dario kommt öfters zu spät. Frau Graf hat besonders darauf geachtet, an welchen Tagen Dario bereits pünktlich war und hat es auf ihrer Erinnerungskarte notiert. Am Mittwoch dieser Woche ist er bereits das dritte Mal pünktlich – nämlich Montag, Dienstag und Mittwoch. Frau Graf überreicht ihm noch am Mittwoch die "Du bist eingeladen" Karte:

Das hast du prima gemacht, Dario - du bist eingeladen!!!

Dario, du hast es diese Woche schon 3-mal geschafft pünktlich zu sein – prima gemacht. Das zeigt, dass du auf einem guten Weg bist und dich verbessern kannst!!! Wie hast du das so gut hingekriegt? War es schwierig, das zu schaffen? Lass uns doch zusammenkommen und uns darüber austauschen, wie dir das gelungen ist. Ich bin schon gespannt und freue mich auf unser Treffen.

Alles Gute und einen schönen Nachmittag

Frau Graf

Sie hat diese Karte in einen Briefumschlag gesteckt, diesen zugeklebt, „für Dario“ draufgeschrieben und ihn an Dario übergeben. Der wollte gleich wissen, was drin ist. Hat ihn aufgemacht und die „du bist eingeladen“ Karte gelesen. Er war begeistert. Zu Hause hat er sie sofort seinen Eltern gezeigt. Die waren überrascht, dass ihr Sohn eine so wertschätzende Karte erhält. Sie sahen Frau Graf in einem deutlichen besseren Licht als ihre Vorgängerinnen. Natürlich kann man das auch mündlich mit dem Schüler besprechen.

Die Schule gestaltet diese Karten so, dass sie den SchülerInnen gefällt. Auch am nächsten Tag kommt Dario pünktlich. ​​​​​​​​​​​​​​

Vor einem Gespräch: Anerkennung geben und auf den Schüler zugehen
Was Einzelgespräche scheitern lässt:
Frau Prinz hat sich über Nese sehr geärgert. Sie möchte ein Gespräch mit ihr führen. Ziel ist, dass sie zustimmt, sich in Zukunft angemessener zu verhalten. Am Tag des Gesprächs mit ihr erlebt sie aber ihr Verhalten wieder als sehr provozierend. Laut und aggressiv weist sie sie vor der ganzen Klasse zurecht. Nese ist gekränkt und richtig verärgert. Dann findet das Einzelgespräch mit Nese statt. Auf den Wunsch von Frau Prinz, sich in Zukunft angemessener zu verhalten, geht Nese nicht ein. Frau Prinz ist enttäuscht und verärgert.
​​​​​​​Ein Einzelgespräch wird kaum erfolgreich sein, wenn uns der Schüler zuvor negativ erlebt hat.

Anerkennung geben und auf den Schüler zugehen
Ahmed ist ein Schüler, dessen Verhalten seine Lehrpersonen der letzten Jahre sehr negativ erlebt haben. Seine jetzige Lehrerin weiß darüber Bescheid. Sie plant, zeitnah nach seinen ersten Unterrichtsstörungen ein Einzelgespräch mit ihm zu führen. Sie möchte ihn dabei unterstützen, sich in Zukunft angemessener zu verhalten. Um ihm zu erleichtern, eine positive Beziehung zu ihr aufzubauen geht sie wie folgt vor: 

1. Auf ihrer Erinnerungskarte hat sie schon einige Male notiert, was Ahmed gut macht und es ihm zeitnah mitgeteilt.

Exkurs: Kann man zu viel Anerkennung geben?
An Hand des Verhältnisses von positiven zu negativen Aussagen zwischen Ehepartnern lässt sich sehr genau voraussagen, ob eine Partnerschaft gelingt oder ob sich das Paar trennen wird (Gottmann, 1994). Gottmann analysierte 15-minütige Videomitschnitte von 700 Gesprächen frisch verheirateter Paare. Er kam zu dem Schluss, „dass jeder abweisenden Bemerkung oder Geste fünf positive Bemerkungen oder Gesten gegenüberstehen müssen, wenn eine Beziehung aufblühen soll (Brohm, Endres 2017, S. 59).

Und bei unseren SchülerInnen? Da gibt es wohl noch keine entsprechenden Untersuchungen. Wir können aber sehen, was bei beruflichen Arbeitsgruppen gilt. Da weisen nämlich sehr gut arbeitende Teams eine Rate von 5:1 oder gar 6:1 auf, also 5 bzw. 6 positive Gesten oder Aussagen gegenüber einer negativen. Der Punkt, an dem positive Bemerkungen nicht mehr ernst genommen werden, scheint bei einem Quotienten von 11:1 zu liegen. Das gilt nicht nur in Teams, sondern auch in Beziehungen (Fredrickson, Losada, 2005, zitiert aus Brohm, Endres, 2017 S. 58).

Jetzt können wir leicht hypothetisieren, wie das bei SchülerInnen mit herausforderndem Verhalten aussieht. Brophy (2004) hat gezeigt, dass diese SchülerInnen mehr kritisiert und ermahnt werden und weniger Lob und Anerkennung erhalten als ihre MitschülerInnen, die sich angemessen verhalten. Vermutlich haben die meisten dieser SchülerInnen ein enormes Anerkennungsdefizit. Das fördert übrigens auch aggressives Verhalten (Haller, 2019). Damit ist klar, dass bei SchülerInnen mit herausforderndem Verhalten kein Risiko besteht, zu viel Anerkennung zu geben. Gerade bei ihnen ist es ja auch noch sehr anspruchsvoll, Anerkennung und Wertschätzung zu geben. Zum Beispiel, wenn wir uns über sie geärgert haben und weil sie ja nicht so viel tun, wofür man ihnen unkompliziert Anerkennung geben kann.

Ein weiteres Mal sehen wir, wie extrem anspruchsvoll der Lehrberuf ist. Da können wir nicht alles perfekt machen.

2. Sie zeigte auch schon Interesse an dem Hobby, das ihn am meisten begeistert und sprach ihn einige Male mit Hilfe des Steckbriefs darauf an.

Der Steckbrief: Mit einem Steckbrief können wir leicht und genau herausfinden, was unsere SchülerInnen am meisten begeistert. Das bietet sich besonders bei SchülerInnen an, die in den letzten Jahren wegen ihres herausfordernden Verhaltens viel ermahnt und kritisiert wurden und deshalb schon eine negative emotionale Haltung gegenüber Lehrpersonen aufgebaut haben. Durch Generalisieren haben sie auch gegenüber neuen LehrerInnen, die sie noch gar nicht wirklich kennen, eine eher negative Haltung. Das erschwert uns aber erheblich den Beziehungsaufbau zu ihnen. Wenn wir aber wissen, was sie am meisten begeistert und interessiert, dann können uns Gespräche mit ihnen darüber dabei helfen, ihre negative Haltung uns gegenüber aufzuweichen. Damit sind wir schon dabei, einen der wichtigsten Schritte in diesem Schuljahr zu leisten. Nämlich, statt dass diese SchülerInnen das ganze Jahr immer mehr stören und uns immer mehr nerven und sehr viel Zeit und Energie kosten, verhalten sie sich langsam immer kooperativer und stören weniger. Damit wird Unterrichten leichter und lockerer.

Der Steckbrief stellt Fragen zu:

  • Sport: Was ist dein Lieblingssport, Lieblingsverein, Lieblingssportler?
  • Musik: Deine Lieblingsband; dein Lieblingshit; dein Lieblingsmusik-Video; dein Lieblingstanz?
  • Tiere: Dein Lieblingstier? Habt ihr ein Tier zu Hause? Hast du es gern?
  • Bücher:  Dein Lieblingsbuch; dein liebstes interaktives, bzw. digitales Buch? Dein Lieblingsautor? 
  • Filme: Was ist der beste Film, Video, DVD, den du je gesehen hast? Dein Lieblings-Netflix-Film - bzw. Netflix-Serie?
  • Letzte Frage: Was von dem, was du aufgeschrieben hast, begeistert dich / freut dich am meisten? Bitte notiere die drei Dinge, die dir am meisten gefallen.

Dann sprechen wir mit dem Schüler darüber, was ihn am meisten begeistert. Damit können sicher sein, dass wir ein Thema ansprechen, das dem Schüler sehr gefällt. Und das erleichtert das Gespräch mit ihm. Das ist natürlich nur eine Kurzfassung eines Steckbriefs, um Sie kurz zu informieren. Eine erweiterte Fassung des Steckbriefs finden Sie unter: https://classroom-management.ch/mit-Psychologie-ins-Klassenzimmer/​​​​​​​

3. Sie verhält sich im Unterricht ihm gegenüber höflich und wertschätzend.

4. Auf unangemessenes Verhalten von ihm hat sie sich vorbereitet. Sie interveniert nur kurz, gemäß den Interventionsleitlinien bei Unterrichtsstörungen (Eichhorn, 2018). Als sie aber dennoch einmal ungewollt laut wurde, hat sie sich dafür entschuldigt.​​​​​​​

Das erste Gespräch

Wir kommen zurück zum Fallbeispiel Dario, der öfters zu spät kommt. Seine Lehrerin hatte ihm eine Einladungskarte für ein Gespräch mit ihm geschrieben.

Die Einstiegsphase: Ziel: Dario soll sich wohl fühlen.

  • Den Schüler freundlich begrüßen,
  • Etwas Small-Talk mit ihm führen, also z.B. „Ging es gut, herzukommen?“  „Gab es schon etwas, das dir heute gelungen ist?“  Oder, „… was dir heute gefallen hat?“
  • Ihm eventuell etwas zu trinken anbieten.

Hauptteil:

1. Den Gesprächskontext erklären:
„Dario, du hast es diese Woche schon viermal geschafft pünktlich zu sein. Ich möchte mich gerne mit dir darüber austauschen, wie du das so gut geschafft hast. Ich helfe dir auch gerne dabei, es weiter so gut zu machen!”

2. An Ausnahmen oder Fortschritten anknüpfen:
Hier können wir Aspekte ansprechen, wie: „Wie hast du es geschafft, pünktlich zu sein?“ „War es schwierig?“ „Hast du es dir vorgenommen?“ „Oder hat dir jemand geholfen?“ „Welche Vorteile hat es für dich, wenn du es weiter so gut schaffst?“ „Hast du nicht weniger Stress, wenn du es schaffst, pünktlich zu sein? Es ermahnt dich dann ja niemand.“ „Meinst du, dass du es morgen auch wieder so gut schaffst?“ Nach der Antwort des Schülers evtl. „Kann ich dir dabei helfen? Das mache ich gerne.“ „Welche Hindernisse könnten es dir erschweren, es zu schaffen?“ Dann überlegen wir mit ihm, was er dagegen tun kann.

3. Die positive Self-Monitoring-Tabelle: Gegen Schluss des Gesprächs sagt Frau Graf zu Dario: „Schau mal bitte, Dario. Da habe ich etwas ganz Wichtiges für dich.“ Dann zeigt sie ihm die Tabelle:

Positive Self-Monitoring Tabelle: Ich habe es geschafft, pünktlich im Unterricht zu sein

Name:  Dario

Ich war pünktlich – clever gemacht!

Das hat mir dabei geholfen

1. 10.

 

 

2. 10.

 

 

3. 10.

 

 

4. 10.

 

 

5. 10.

 

 

Frau Graf erklärt: „An jedem Tag, an dem es dir gelingt, pünktlich in der Schule zu sein, darfst du das in der Tabelle notieren.“ Gegenüber unseren SchülerInnen nennen wir diese Tabelle z.B. „gut gemacht-“, clever gemacht-“ oder „Ich hab`s geschafft-Tabelle“, bzw. so, wie sie der Schüler am liebsten bezeichnet. Oder wir fragen ihn einfach, „Wie möchtest du diese Tabelle bezeichnen?“

Dario notiert schon beim ersten Gespräch seine ersten Erfolge.
Frau Graf sagt: „Diese Woche warst du doch schon Montag, Dienstag, Mittwoch und heute, Donnerstag, pünktlich. Das darfst du gleich mal in deiner „Clever-gemacht-Tabelle“ eintragen.“

Positives Feedback geben:
Auch am Freitag hat es Dario wieder geschafft, pünktlich zu sein. Frau Graf schreibt ihm in digitaler Form, „Dario, ich bin stolz auf dich. Du hast es diese Woche geschafft, jeden Tag pünktlich zu sein, very nice. Und du hattest gestern schon gute Ideen, wie du es in Zukunft weiter schaffst, pünktlich zu kommen. Das hat mir sehr gut gefallen.“ Frau Graf hat das digital gemacht, weil Dario sofort nach dem Unterricht weg musste.

Darauf zurückkommen: Wenn es SchülerInnen mit herausforderndem Verhalten gut machen, können wir die Gelegenheit nutzen, dem Schüler ein weiteres Mal Anerkennung zu geben, indem wir später noch einmal auf das, was der Schüler gut gemacht hat, zurückkommen. Es also noch einmal erwähnen. Das fördert unsere Beziehung zu ihm ein weiteres Mal und motiviert ihn, es weiter besser zu machen. Seine Lehrerin nimmt sich vor, ihm am Montag zu sagen, „Dario, weißt du noch? Letzte Woche ist es dir gelungen, jeden Tag pünktlich zu sein – das war doch klasse, gell?“

Den Eltern Positives über ihr Kind mitteilen – die beste Möglichkeit, mit ihnen ins Gespräch zu kommen
Zu Hause zeigte Dario stolz seine „Du bist eingeladen“ Karte und die positive Self-Monitoring Tabelle seinen Eltern. Die sind begeistert. Viele Lehrpersonen kommen unter diesen Umständen sogar mit Eltern ins Gespräch, mit denen die Zusammenarbeit in den letzten Jahren sehr schwierig war. 

Zeiten für Einzelgespräche
​​​​​​​Schon lange ist klar, dass es bei vielen SchülerInnen nicht ausreicht, sie nur zu unterrichten. Und immer mehr Schulen reagieren entsprechend. So haben erste Schulen ein Mentorensystem eingeführt, z.B. die Hardtschule Durmersheim - oder sie führen Beratungsgespräche durch, z.B. eine Schule in Wutöschingen. An der Eichendorffschule in Erlangen (alle drei in Deutschland) ist jede Lehrperson für 10 - 12 SchülerInnen verantwortlich und trifft sich regelmäßig zum Austausch mit ihnen (Klemm, 2022). In anderen Schulen treffen sich Lehrpersonen regelmäßig mit Kleingruppen, wie z.B. beim Lern-Coaching. Derartige Maßnahmen erleichtern es uns erheblich, eine persönlichere Beziehung zu unseren SchülerInnen aufzubauen. Auch Ganztagsschulen ermöglichen es uns, unsere SchülerInnen in Einzel- oder Kleingruppengesprächen zu treffen. Alles weitaus sinnvoller und beziehungsförderlicher, als wenn wir unseren Beziehungsaufbau immer nur im Klassenrahmen vornehmen müssen.

Aber nicht alle Schulen verfügen über solche Angebote. Dann bietet es sich an, Prioritäten-Management (wie es im Classroom-Management schon lange existiert) einzuführen. Da geht man nämlich davon aus, dass bei schwierigen Klassen, oder bei Klassen mit zahlreichen SchülerInnen mit deutlich ausgeprägtem herausforderndem Verhalten, Classroom-Management zunächst Priorität gegenüber Fachunterricht hat. Natürlich findet der Fachunterricht auch statt. Aber die zentralen Classroom-Management-Tools stehen erst mal im Vordergrund, wie z.B. der Beziehungsaufbau, die Einrichtung eines guten Klassenklimas, die Aktivierung der SchülerInnen, die Einführung und Umsetzung von Klassenregeln usw. (Wong and Wong, 2018). Die dahinterstehende Überlegung ist einfach: Wenn im Klassenzimmer viel Unruhe herrscht, lernen die SchülerInnen weniger (Kounin, 2006). Für Lehrpersonen besteht ein erhöhtes Risiko von Überlastung und Burnout, was den Unterricht beeinträchtigt auch wenn wir es nicht wollen (Kaluza, 2018). Klar kann man entspannt besser unterrichten als gestresst und erschöpft. Unter Stress können wir uns weniger gut in unsere SchülerInnen einfühlen, weniger souverän handeln, wenn sie stören. Selbst klare Aufträge geben wird deutlich schwieriger, was schnell zu Verwirrung bei den SchülerInnen und weiterer Unruhe führen kann usw. Es gibt also zahlreiche Gründe, Classroom-Management vor allem in den ersten Wochen eines neuen Schuljahres eine besondere Priorität zukommen zu lassen - und in diesem Zusammenhang Einzelgespräche einzurichten.
Das kann konkret so aussehen: Ich möchte morgen mit Dario zu einem Einzelgespräch zusammenkommen, weil er sich gestern zum ersten Mal angemessen verhalten hat, statt stark zu stören. In der 4. Stunde habe ich eine Freistunde. In der kann ich es mir einrichten, mich mit ihm zu treffen. Die Schule hat vereinbart, dass solche Gespräche Priorität haben. Jetzt kann ich mit meiner Kollegin, die morgen die 4. Stunde unterrichtet, absprechen, dass Dario dann für eine gewisse Zeit zu mir zum Gespräch kommt. Da diese Gespräche keine Bestrafungs-, sondern Unterstützungsgespräche sind, ist es für Dario auch nicht negativ, wenn er aus der Klasse geht. Sein Ansehen bei seinen Mitschülerinnen soll ja darunter nicht leiden. Das ist auch kaum der Fall, wenn diese Gespräche nicht als Zeichen von Schwäche oder Bestrafung angesehen werden. Die Kollegin, deren Klasse der Schüler verlässt, organisiert zu Beginn der nächsten Stunde eine Wiederholung für diesen Schüler, die die SchülerInnen der Klasse übernehmen. Sie bereiten sich darauf in Kleingruppen vor. Die Vorteile sind: 1. Die SchülerInnen, die den Stoff von gestern erklären, lernen selbst dabei und 2. wir können damit mögliche Vorbehalte von Eltern gegen dieses Vorgehen abschwächen.

Anregung für die Schulleitung: Engagieren Sie von außen kommende Fachpersonen, um das an Ihrer Schule einzuführen.


Christoph Eichhorn ist Schulpsychologe in der Schweiz und Autor zum Thema Classroom-Management. Er arbeitet als Lehrbeauftragter an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und gibt Workshops, Online-Workshops und hält Vorträge zu Classroom-Management.

Brom, M., Endres, W. (2017): Positive Psychologie in der Schule. Beltz. Weinheim. 2. Auflage.

Brophy, J., (2004): Motivating students to learn.  Mahwah, NJ: Lorenz Erlbaum Associates Publishers.

De Shazer, S., Dolan, Y. (2021): Mehr als ein Wunder: Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie heute: Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Carl Auer Verlag. 8. Aufl.

Eichhorn, C. (2018):   Classroom-Management Basiswissen Kompakt: Stören

  • Die wirksamste Störungsprävention
  • Interventionsleitlinien bei kleinen Störungen
  • Interventionsleitlinien bei großen Störungen

Eichhorn, C., (2022): Mit Psychologie ins Klassenzimmer

Fredrickson, B., Losada, M.F. (2005): Positive affect and the complex dynamics of human flourishing. American Psychologist, 60, S 678 – 686.

Gottman, J.M. (1994): What predicts divorce? The relationship between m arital processes and marital outcomes. New York: Erlbaum.

Haag., L. (2020): Klassenführung: Erfolgreich unterrichten mit Classroom Management (BildungsWissen Lehramt) 2. Auflage, Kindle Ausgabe.

Haller, R. (2019): Das Wunder der Wertschätzung. Gräfe und Unzer, München.

Kaluza, G. (2018)   Stressbewältigung: Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung

Klemm, H. (2022): Ich, du, wir – gemeinsam. In: PÄDAGOGIK, Heft 7-8; S. 18 – 21.

Kounin, J. (2006): Techniken der Klassenführung. Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik. Waxmann. 

Plevin, R. (2018): Connect With Your Students: How to Build Positive Teacher-Student Relationships - The #1 Secret to Effective Classroom Management Independently published. 

Wong, H.K., Wong, R (2018): THE Classroom-Management Book. Mountain View, California: Harry, K., Wong Publications. 2. Aufl.