Bullied and Pained

Mobbing ist Thema. In vielen Klassen werden SchülerInnen gekränkt, erniedrigt, ausgestoßen oder drangsaliert. Es braucht auf schulischer Seite Sensibilität, Klarheit und Entschlossenheit, um verfahrene Situationen aufzulösen und zu einer Lernerfahrung für alle Beteiligten zu machen.

Mädchen schaut auf Handy

Brief einer 13-Jährigen an ihre Englischlehrerin...

If I decide to show this to you, Mrs. A., then I just simply wanna start with this: I feel miserable. I also feel contempt to some of my classmates. Yes, I am well aware of the fact, that you don´t like seeing these depressing texts from me that much, but I just want to get this out of me. I chose to write this to you, because you´re one of the teachers, I trust the most. Perhaps even the only one since Frau Sch. went away. Anyway … today I was told to hang myself, because I wasn´t very fast in sports. I will not name who it was and I won´t make a drama out of it. Anyway … to be honest what really hurts me is not the fact, that it is not the first time I was told to commit suicide. Speaking of that … do you remember the text I wrote about pain last school year? You asked me, if I was alright and if it had anything to do with me. I said, I was fine and that it was nothing, but that was a lie. It was somehow based on me. I´ve been thinking of suicide more than once. The fear of death and my friends‘ words were stronger than the urge to die. Please don´t worry and don´t tell anyone. Nobody can really help me with this. I don´t want to go to a teacher, who´ll talk to me about it and “attempt” to help me. It´ll be invain. Please, promise not to tell anyone. It´ll only cause more stress.

Dieser Brief bereitet der Englischlehrerin schlaflose Nächte. So wendet sie sich, trotz Ersuchen der Schülerin, niemanden einzubinden, an mich. Im Erstgespräch mit dem Mädchen halten die Lehrerin und ich fest, dass wir sehr froh sind, dass sie sich an die Lehrerin gewandt hat und diese in dem Fall auch verpflichtet ist, Hilfsmaßnahmen einzuleiten, also z.B. mich als Betreuungslehrerin einzubinden. Ella hat große Angst, dass durch ein Offenlegen alles noch schlimmer werden könnte.

Doch die Lehrerin und ich stellen klar, dass Gewalt im Dunkeln gedeiht und wir alles tun werden, um diese Vorfälle in Zukunft zu unterbinden, dass dies jedoch nur möglich ist, wenn all die Vorfälle ans Licht gebracht werden. Dass Ella keine Angst haben muss, weil wir in der Vorarbeit alle Schritte, die wir setzen wollen, mit ihr ganz genau absprechen und sie auch Unterstützung von unserer Seite erwarten darf. Ella verlangt ihrerseits, dass ihre Eltern auf gar keinen Fall darüber informiert werden dürfen.
Wir eruieren, von wem Ella sonst noch Hilfe bekommen kann und wer ihre Freundinnen sind. Ebenso erfragen wir, wie viele Kinder sich, ihrer Einschätzung nach, abschätzig ihr gegenüber äußern bzw. verhalten und wie lange das schon so geht.

Gemeinsam entwickeln wir eine Strategie, wie wir damit umgehen werden und skizzieren die nächsten Schritte: Information und Einbinden der Direktorin und der Klassenvorständin sowie Vereinbarung einer Betreuungs-Klassenstunde mit der Klassenvorständin und der Englischlehrerin. Die Vorgehensweise für diese Stunde sprechen wir mit Ella sehr genau ab.

Die Direktorin hat mit der Klassenvorständin eine Woche zuvor mit derselben Klasse zu Gefühlen, Respekt und Ausgrenzung einzelner Schüler gearbeitet. Ich knüpfe an die bereits gehaltene Stunde der Direktorin an und frage nach Erkenntnissen und Auswirkungen. Mit fällt auf, dass bei manchen Fragen viele Augenpaare zu einem Schüler der Klasse wandern. Dieser ist aus disziplinären Gründen von einer anderen Schule hierher versetzt worden. Erst nachdem er gesprochen hat, geben auch die anderen SchülerInnen Antworten.

Im zweiten Teil der Stunde erfrage ich das Wohl-/Unwohlfühlen in der Klasse. Dazu positioniere ich vier Kärtchen in den vier Ecken der Klasse:

Pos. 1: Ich fühle mich in der Klasse sehr wohl.
Pos. 2: Ich fühle mich in der Klasse wohl.
Pos. 3: Ich fühle mich in der Klasse weniger wohl.
Pos. 4: Ich fühle mich in der Klasse gar nicht wohl.

Mit Ella habe ich diese Phase vorher ganz genau abgesprochen. Sie konnte sich vorstellen, nötigenfalls auch alleine auf Pos. 4 zu stehen.
Nach einer kurzen Denkpause gehen die Kinder in Zeitlupe zu dem Platz, der im Moment am deutlichsten zutrifft. Die Mehrheit der Klasse plaziert sich bei wohl. Ein Schüler stellt sich zu sehr wohl, Ella steht als einzige bei gar nicht wohl.

Die Englischlehrerin stellt sich intuitiv zu Ella, damit diese nicht ganz so alleine dort steht. Ich frage Ella, weshalb sie diesen Platz gewählt hat und sie sagt, sie fühle sich in der Klasse gar nicht wohl, weil sie von MitschülerInnen ausgegrenzt würde. Ich befrage die MitschülerInnen, wer eine Idee hat, weshalb Ella diesen Platz gewählt haben könnte und wer sich da angesprochen fühlen könnte. Ich ersuche die Kinder, sich selber zu melden und weise darauf hin, dass das einen gewissen Mut braucht, um sich hier zu zeigen. Nachdem sich einige SchülerInnen gemeldet haben, frage ich Ella, ob das alle seien. Sie verneint. Ich frage, wer noch Verantwortung dafür übernehmen müsste und spreche meinen Respekt denjenigen aus, die dies bereits gewagt haben. Es melden sich weitere SchülerInnen. Letztendlich haben zehn zugegeben, Ella zu blamieren, sich lustig über sie zu machen und sie abfällig zu behandeln.

Ich bitte diese 10 Personen in den Kreis und spreche anschließend von der Vielstimmigkeit, das heißt, dass in uns viele positive und auch weniger positive Stimmen/Teile wirken und dass wir entscheiden, welche Teile wir nach außen zeigen, und dass die negativen Anteile oft einmal leichter lebbar sind als die positiven. Ich erzähle die Geschichte von den beiden Wölfen, die in uns kämpfen und gemeinsam reflektieren wir, was das für uns bedeuten könnte und wie sich das im Alltag auswirken kann.

Es gelingt (mir), so wie Haim Omer anregt, eine Haltung ohne Vorurteile gegen die Täter beizubehalten - im Sinne von: ächte die Tat, aber achte den Täter!

Ich erzähle von mir und dass ich, obwohl schon so alt, immer noch "Fehler" mache, für die ich mich im Nachhinein schäme, dass es aber einen Ausweg gibt und dass dieser - so er ernst gemeint ist - mit einer Entschuldigung beginnt. Anschließend frage ich die SchülerInnen in der Mitte, wem es ein Anliegen ist, eine Entschuldigung an Ella auszusprechen. Es ist sehr berührend, wie nach und nach alle - und die meisten sehr ernsthaft - vor Ella treten und laut und deutlich formulieren, wofür sie sich entschuldigen, was ihnen leid tut und dass sie versprechen, dies in Zukunft zu unterlassen. Ein Handschlag besiegelt jeweils das Versprechen.

Auf meine Frage an Ella, welchen Platz sie nach diesem Procedere wählen würde, geht sie zu "Ich fühle mich in der Klasse wohl".

Die Stunde ist damit beendet. Wir laden alle nicht direkt Beteiligten ein, die weitere Entwicklung zu beobachten bzw. auch einmal verbal für Ella einzutreten, falls es doch noch zu Untergriffen kommt. Ich kündige an, dass wir in ca. fünf bis sechs Wochen einen weiteren Termin mit der Klasse wahrnehmen werden. Weiters, dass die Direktorin über alles informiert worden sei und auch weiterhin informiert wird und dass ich mit Ella immer wieder einmal Kontakt halten werde.

Ella berichtet in diesem Begegnungen, dass es ihr bei Weitem besser gehe (von 0 auf 9 von möglichen 10 Punkten auf der Wohlfühlskala). Sie beschreibt drei Schülerinnen, die explizit verbal für sie eingetreten sind und dass auch der Rest der Klasse sie zum Beispiel am Morgen freundlich begrüße, beziehungsweise sie in Ruhe lasse.

In der folgenden Woche schreibt die Klassenvorständin zur Erinnerung "Den guten Wolf füttern" an die Tafel. Sie fragt auch immer wieder bei einzelnen SchülerInnen nach, wie die Entwicklung sei.
Inhalt der zweiten Klassenstunde Nachfragen: Was ist noch da an Erinnerungen? Wer hat wen tatsächlich beschützt? Wie war die weitere Entwicklung?

Einen ihrer Hausschuhe stellt jede/r SchülerIn (der Reihe nach im Kreis) zu einem/r SchülerIn, dessen/deren Verhalten deutlich positiv aufgefallen ist und formuliert dies in einem Satz. Mit der Klassenvorständin vereinbare ich, dass sie monatlich positive Feedbackrunden mittels Post-its machen wird, die sie in je einem Kuvert pro Kind sammeln und diesem zum Schulschluss aushändigen wird.

Nach Weihnachten bringt Ella eine Freundin mit, die in diesem Schuljahr neu in der Klasse ist und von zwei besonders hübschen Mädchen via Telefon, SMS und Facebook beleidigt, erniedrigt, bedroht und als Außenseiterin beschimpft wird.

Ich muss gestehen, dass ich einigermaßen enttäuscht war, hatten sich doch meine Erwartungen, dass ähnliche Vorfälle zumindest in dieser Klasse nicht mehr stattfinden würden zerschlagen. Im darüber Nachdenken sind mir auch einige KollegInnen eingefallen, die bei ähnlichen Vorfällen ihre Enttäuschung mit einem "Das bringt doch eh alles nix!" zum Ausdruck gebracht haben. Kurz habe ich ähnlich gefühlt im Sinne von "Was haben wir übersehen oder falsch gemacht?"
Mir ist - obwohl mir das schon sehr klar ist! - die Illusion von Kontrolle noch deutlicher geworden. Von der positiven Seite betrachtet hat unser Handeln andere Kinder ermutigt, mit ihren Problemen zu uns zu kommen und um Hilfe zu bitten, weil sie erlebt haben, dass Hilfe möglich ist. Hier bestätigt sich die Aussage Haim Omers, dass sich mehr Kinder melden, wenn sie erleben, dass sie Schutz und Unterstützung erwarten können.

Vor allem aber habe ich verstanden, dass die Illusion von Kontrolle nicht gleichbedeutend ist mit Hilflosigkeit und Passivität.


Ingrid Köberl-Schmidt
​​​​​​​ist seit etwa 30 Jahren Betreuungslehrerin in Linz und Umgebung.
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