Chancengerechtigkeit im Bildungssystem?

Kinder wachsen in unterschiedlich lernfreundlichen familiären Umgebungen auf. Ihre Startbedingungen ins Bildungssystem sind von den Ressourcen und Erwartungen der Eltern beeinflusst. Schule soll Defizite nach dem Prinzip der Chancengerechtigkeit ausgleichen und als entscheidende Instanz die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Religionszugehörigkeit zur größtmöglichen Entfaltung bringen (Art. 14 Abs. 5a Bundesverfassungsgesetz). Dies ist nicht nur wichtig um jedem einzelnen jungen Menschen die gleichen Chancen auf eine vollwertige Partizipation an der Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen, sondern auch um volkswirtschaftliche Ressourcen zu nutzen.

Doch PISA zeigt auf, dass Österreich zu jenen OECD-Ländern gehört, in denen der sozioökonomische Hintergrund (Bildung und Beruf der Eltern, materieller Wohlstand) einen starken und zunehmenden Einfluss auf den Schulerfolg der Jugendlichen hat. Auch die Kluft zwischen Schüler*innen, deren Eltern im Ausland geboren wurden, und ihren einheimischen Altersgenossen ist weit größer als im OECD-Schnitt.

Kinder in der Klasse

Kinder sind unsere wertvollste Ressource.

Nelson Mandela

Sozial abgehängt – soziale Herkunft und Bildungschancen

Österreich zählt zu den OECD-/EU-Ländern mit den größten Leistungsdifferenzen nach sozialer Herkunft. 15-/16-Jährige mit niedrigem Sozialstatus liegen in Mathematik 109 Punkte, in Lesen 115 Punkte und in Naturwissenschaft 128 Punkte hinter Gleichaltrigen mit hohem Sozialstatus zurück (26 Punkte entsprechen einem Lernjahr). Bedingt durch Kompetenzrückgänge bei Jugendlichen mit niedrigem Sozialstatus ist die soziale Schere im Vergleich zu PISA 2018 vor allem in Naturwissenschaft und Lesen weiter aufgegangen.

In dem Bestreben, mehr soziale Gerechtigkeit durch Bildung zu erreichen, ist es eine große Herausforderung für das österreichische Bildungssystem, die immer stärker werdenden Kompetenzdefizite der Schüler*innengruppe mit niedrigem Sozialstatus zu reduzieren und gleichzeitig das Niveau der übrigen Gruppen zu halten bzw. zu heben. Und dabei vielleicht auch den Blick in Bildungssysteme zu wagen, denen es weitaus besser gelingt, Kindern unabhängig von deren sozialer Herkunft möglichst hohe Kompetenzen zu vermitteln.

Vererbte Bildung - Elternhaus und Bildungschancen

Die Idee, dass alle, die sich anstrengen, den Aufstieg schaffen, ist Illusion. Bildung wird nach wie vor vererbt. Der Status der Eltern ist entscheidend für den Bildungsweg der Kinder – und die Schule verstärkt diesen Startvorteil, anstatt ihn auszugleichen.

Kinder sind Hoffnungen.

Novalis

Schüler*innen mit Migrationshintergrund liegen in Mathematik um 58 Punkte, in Lesen um 65 Punkte und in Naturwissenschaft um 78 Punkte hinter jenen ohne Migrationshintergrund. Im Vergleich zu den OECD-Ländern sind diese Leistungsdifferenzen relativ groß. Während die Differenz in Mathematik und Lesen über die Jahre hinweg annähernd gleichbleibend ist, öffnet sich die Schere in Naturwissenschaft noch weiter. Auch unter Berücksichtigung des Sozialstatus bleiben in Österreich starke herkunftsbezogene Leistungsunterschiede bestehen.

Internationale und nationale Studien zeigen übereinstimmend, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund geringere Leistungen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft erbringen als Schüler*innen, bei denen zumindest ein Elternteil in Österreich geboren ist. In Österreich ist die Bildungsmobilität von Kindern mit Migrationshintergrund weitaus geringer als die von Kindern ohne Migrationshintergrund.Österreich zählt auch zu jenen Ländern, in denen ein besonders großer Anteil der Schüler*innen mit Migrationshintergrund – nämlich etwa die Hälfte – sozioökonomisch benachteiligt ist.

Für einen seriösen Vergleich ist aber anzumerken, dass ein besonders hoher Migrantenanteil wie in Österreich auch größere Herausforderungen mit sich bringt. Es macht einen Unterschied, ob in einer Klasse 20 Prozent eine andere Muttersprache haben oder 80 Prozent. Allerdings beweist das Einwanderungsland Kanada, dass sich Migrationshintergrund nicht in schlechteren Bildungschancen niederschlagen muss.

In der kleinen Welt, in welcher Kinder leben, gibt es nichts, das so deutlich von ihnen erkannt und gefühlt wird, als Ungerechtigkeit.

Charles Dicken

Geschlecht und Bildungschancen

Kompetenzunterschiede nach Geschlecht sind absolut gesehen wesentlich weniger stark ausgeprägt. Doch auch hier liegt Österreich im PISA-Spitzenfeld: Im Vergleich weist Österreich (+19 Punkte) – wie schon bei früheren PISA-Erhebungen – den zweitgrößten Geschlechterunterschied in der Mathematikkompetenz zugunsten von Burschen auf. In Lesen zeigen in Österreich Mädchen eine signifikant höhere Lesekompetenz als Burschen (+20 Punkte). In Naturwissenschaft hingegen weisen Burschen in Österreich höhere Kompetenzen auf (+11 Punkte).

Eine mögliche Erklärung für die in Österreich relativ stark ausgeprägten Kompetenznachteile von Mädchen in Mathematik liefern Analysen zur Unterrichtszeit, die zeigen, dass Mädchen wesentlich weniger Mathematikunterricht erhalten als Burschen (durchschnittlich 46 Minuten weniger pro Woche). Die Gründe dafür dürften in der starken Geschlechtersegregation nach Schulformen, einem stark gegliederten Schulsystem und den dafür unterschiedlichen Lehrplänen liegen. Österreich zählt damit zu den sechs OECD-/EU-Ländern mit dem größten Geschlechterunterschied in der Mathematikunterrichtszeit.

Geschlechterunterschiede zeigen sich allerdings nicht nur bei den Kompetenzen und in der Unterrichtszeit, sondern auch bei motivationalen Merkmalen. So weisen Mädchen eine geringere Selbstwirksamkeit in Mathematik auf, d.h., sie sind weniger überzeugt, vorgegebene Mathematikaufgaben lösen zu können und berichten von mehr Angst vor Mathematik.

Nach-Denken

Die Problemfelder, die PISA präsentiert, sind weder überraschend noch neu. Bloß, Datenberge, die alle drei Jahre gesammelt werden, ändern nichts am Schulsystem. Unabhängig von den Ergebnissen wird aber ein zukunftsorientierter Diskurs durch Kritik an der Erhebungsmethodik oft im Keim erstickt, eine Datenvergleichbarkeit häufig grundsätzlich in Abrede gestellt. Diese fehlende Daten-, aber auch die fehlende Lernkultur im System sind zentrale Ursachen für das Mittelmaß der österreichischen Bildung: Es fehlt die Ambition, um an die europäische Spitze zu kommen oder gar in der Weltklasse mitzuspielen. Und es fehlt ein Diskurs abseits jeglicher ideologischer Scheuklappen, wie Schule in Österreich in Zukunft aussehen soll.

Das Bessere ist der Feind des Guten.

Voltaire

Anstatt sich also in einem internationalen Ranking damit zu brüsten, über dem Schnitt zu liegen, sollte das Ziel sein, Entwicklungen in Gang zu setzen, um allen Kindern bestmögliche Bildungschancen zu eröffnen.

PISA-Studie - Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) https://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/

PISA-Studie - Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (IQS) https://www.iqs.gv.at/pisa

Herzog-Punzenberger, B. (2023). Migration und Mehrsprachigkeit. – Wie fit sind wir für die Vielfalt? In Policy Brief 06 - Selektion in der Bildungslaufbahn. Wien. Policy_Brief-Nr.6_202311.pdf (arbeiterkammer.at)

Dieser Beitrag von Margarete Kranewetter, BEd, Mitarbeiterin im Zentrum Lernen•Lehren der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich, erschien am 29. Jänner 2024 im Newsletter - #lernenverantworten … kurz & bündig.