"... die Geschichte hat Wunder bewirkt"

Geschichten, mit oder für Kinder oder Jugendliche zu schreiben, Gedanken gemeinsam zu formulieren und festzuhalten, Sorgen, Nöte, Ängste, aber auch Stärken und Ressourcen "zu Papier" zu bringen … all das kann helfen, vielschichtige Zusammenhänge ein Stück mehr "verstehbar" zu machen - für die Betroffenen selbst, aber auch für das soziale Umfeld. 

Teddybär mit altem Buch

Bei Kindern oder Jugendlichen in Not steht oft eine lange, leidvolle, sehr persönliche Geschichte dahinter. Wenn Vertrauenspersonen diese Geschichte verstehen, kann das heilsam sein. Doch auch wenn Schule oft der Ort ist, wo seelische Wunden sichtbar werden, ist das Setting hier doch kein Ort für Therapie und vieles brauchen/sollen wir gar nicht zu wissen. Das ist ein Dilemma. 

Dieses Dilemma überwinde ich manchmal mit Geschichten, die ich für die Kinder/Jugendlichen schreibe. Ich erfinde eine Innenperspektive, die in manchen Punkten mit der Lebenssituation, die ich aus Berichten von betroffenen Kindes / Jugendlichen kenne, übereinstimmt, in anderen nicht. Ich lese diese Geschichten den Betroffenen vor, verändere und entwickle sie gemeinsam weiter. In Absprache bzw. auf Wunsch gebe ich diese Geschichten manchmal auch weiter oder lese sie in der Klasse vor.

Diese Identifizierung auf der einen Seite mit gleichzeitiger Distanz ermöglicht es, innere Zustände zu beschreiben, ohne die Schülerin oder den Schüler zu blamieren - das fördert Verständnis und ist eine gute Möglichkeit, heikle Zusammenhänge weiter zu vermitteln. 

Zum Beispiel verbale Aggressivität

Peter hat ein ganz schwieriges Sozialverhalten, kann kaum Kontakt mit anderen Kindern aufnehmen und hat eine äußerst aggressive Ausdrucksweise. Es sind viele Gespräche und Maßnahmen nötig, um Peter einigermaßen in den Sozialverband Klasse einzubinden. Eine Intervention von mir ist eine Geschichte, die ich für ihn geschrieben habe und die wir gemeinsam weiterentwickelt haben. 

Es war einmal ein kleiner Prinz, der hat in einem Königsschloss gewohnt.
Es war ein schönes Schloss, er lebte mit seinen Geschwistern dort und im Schlossgarten haben sie oft sehr lustig miteinander gespielt. 
Die Königin war ein gutmütige Frau, aber sie war auch oft traurig, weil der mächtige König viele böse Worte gesprochen hat.
In der Nacht ist zu dem kleinen Prinzen immer wieder ein böser Zauberer gekommen. Er hat ihm böse Worte in sein Herz geschüttet, so dass das Herz des jungen Prinzen ganz trüb und sauer geworden ist.
Wenn er dann am Morgen aufgewacht ist, sind dem kleinen Prinzen die bösen Worte gleich aus dem Mund geflossen. Er hat sie über seine kleinen Geschwister gegossen, er hat sie über die Königin gegossen und als er in die Prinzenschule gegangen war, hat er sie gleich über die Lehrerinnen und manchmal auch über die anderen Kinder gegossen. Da war alles schwarz vor lauter bösen Worten. 

Die anderen Kinder in der Prinzenschule haben unseren kleinen Prinzen mit Verwunderung angeschaut: "Was ist denn mit dir los? Warum sagst du so böse Worte?" Sie haben gemeint, dass unser kleiner Prinz böse wäre und keiner wollte ein Freund von ihm sein. Da ist unser kleiner Prinz immer trauriger geworden, und weil er nicht weinen konnte, sind immer mehr böse Worte aus ihm heraus gekommen. Niemand hat aber von dem bösen Zauberer gewusst.

So hat sich der kleine Prinz sehr einsam gefühlt, keiner hat ihn verstanden. Oft ist er dann durch den Wald gegangen. Hier hat er sich wohl gefühlt. Ein Baum - eine riesengroße Tanne - ist sein Lieblingsbaum geworden. Ihm hat er sein Leid geklagt: Wie traurig er sei, weil niemand ihn als Freund haben wollte. Fast hat er gemeint, sein Baum könne ihn verstehen. So hat er ihn richtig lieb gewonnen. Der Baum ist zu seinem Freund geworden.

Als unser kleiner Prinz eines Tages wieder durch den Wald zu seinem Baum ging, ganz traurig und voll mit bösen Worten, da hat er auf einmal nahe von von seinem Baum ein kleines Licht gesehen. Mutig ist er auf das Licht zugegangen. Aber das ist ja ein ganz besonderes Wesen, dachte unser kleiner Prinz, als er näher kam. 
Ich bin die Baumfee, sagte sie zu ihm. Ich weiß, du bist traurig, weil du keine Freunde hast. Ich habe dir zugehört, wenn du dem Baum deine Geschichte erzählt hast. Ich weiß, dass du viele böse Worte in dir hast. 
Ja, sagte der kleine Prinz. Ich habe viele böse Worte in mir und schütte sie immer wieder aus. Und ich weiß nicht, wie diese bösen Worte in mich hinein kommen.
Da sagte die Baumfee: Es ist ein böser Zauberer, der dir diese bösen Worte in der Nacht in dein Herz schüttet. So wird dein ganzes Herz trüb und sauer. Und wenn du dann zu anderen Menschen kommst, schüttest du die bösen Worte wieder aus. 

Ein böser Zauberer? Der kleine Prinz war ganz erstaunt. Aber wieso schüttet er die bösen Worte in mich hinein? 

Ich weiß nicht, warum er sie in dich hineinschüttet. Vielleicht gibt es jemanden, der die bösen Worte in den Zauberer schüttet. Wir müssen den Zauberer finden. Willst du dich mit mir auf den Weg machen, um den bösen Zauberer zu finden?

Der kleine Prinz spürte, wie das Licht der Baumfee bis in sein Herz hinein leuchtete. Doch er hatte auch ein wenig Angst. Was würde der böse Zauberer mit ihm tun? Könnte er ihm ein Leid zufügen? 
Und so fragte er die Baumfee: Ist der Weg zum Zauberer denn nicht sehr gefährlich?
Ja, sagte die Baumfee. Der Weg ist gefährlich. Aber wenn wir zusammenhalten, werden wir die Gefahren überwinden. Mein Licht wird dich vor den Gefahren schützen.

Der kleine Prinz hörte die guten Worte der Baumfee und ihr Licht machte sich in seinem Herzen immer breiter.

Ja, mit ihrer Hilfe würde es ihm gelingen, den bösen Zauberer zu besiegen. 
Und so machten sie sich gemeinsam auf den Weg. 

Als erstes kamen sie zu einem Tunnel. In dem Tunnel war es ganz finster. Der kleine Prinz sagte: Ich kann nicht mehr weiter gehen. 
Da sagte die Baumfee: Wir müssen weitergehen. Wir müssen den bösen Zauberer finden. 
Der kleine Prinz sagte: Aber ich bin müde.
Die Baumfee sagte: Wir müssen weitergehen. Du kannst nachher in deinem Bett schlafen. Wir laufen jetzt weg. Der Tunnel will uns fressen. 
Da spürte der kleine Prinz wieder Kraft und lief auch weg. 

Auf einmal kamen kleine böse Monster. Der kleine Prinz nahm all seinen Mut zusammen und kämpfte gegen die bösen Monster. Das Licht der Baumfee machte ihn stark und half ihm, die Monster zu besiegen.
So kamen sie weiter auf ihrem gefährlichen Weg.
Dann kamen sie zu einer Berghöhle. In dieser Höhle lebte der böse Zauberer. 
Der böse Zauberer sah den kleinen Prinzen und brüllte ihn an: Was machst du hier? Wie bist du hierher gekommen? Der Weg ist doch so weit und gefährlich…
Und schon wollte er wieder böse Worte in den kleinen Prinzen gießen.
Der kleine Prinz zuckte vor Angst zusammen. Doch da spürte er das Licht der Baumfee in seinem Herzen leuchten. Das gab ihm Kraft und er sagte zum bösen Zauberer: Ich will deine bösen Worte nicht mehr. Behalte sie für dich. 
Da wurde der böse Zauberer plötzlich ganz klein und er verlor seine Macht.
Der kleine Prinz aber fühlte er sich frei und stark. Fröhlich ging er wieder zurück. 
Und er freute sich auf seine Freunde in der Prinzenschule.

Psychisch krank - wie erkläre ich das meiner Klasse?

Lisa kommt nach dem Aufenthalt in der Psychosomatischen Kinder- und Jugendstation wieder zurück in ihre Klasse. Was soll sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sagen? Wie kann sie das alles erklären? Sie redet mit mir und bittet mich, die Klasse zu informieren. 
Ich erfinde eine Geschichte - Die Geschichte von Mara. Manches ist bei Mara so ähnlich wie bei Lisa, aber ganz genau weiß man das nicht. 
Ich bespreche diese Geschichte zuerst mit Lisa und lese sie dann in der Klasse vor.

Es war einmal …
ein Mädchen namens Mara.
Schon als kleines Kind hat sie immer wieder ganz besondere Ideen gehabt … wie kann man zum Mond fliegen… oder kann man die Farben des Regenbogens zum Malen verwenden?
Sie malt sehr gerne und alle sagen, dass sie ganz toll malt. 

Wie alle Eltern lieben ihre Eltern sie. Und wie in fast allen Familien gibt es auch in der Familie von Mara Streit. 
Plötzlich ist der Vater nicht mehr da …
Und dann ist auch die Mama nicht mehr da. Man sagt, sie sei krank …
Mara hat schreckliche Angst, dass sie plötzlich alleine auf der Welt sein würde. Aber diese Angst kann sie mit niemanden besprechen. Sie will brav sein, damit die Mama schnell wieder gesund wird.
Mama kommt auch wieder heim. Man sagt, sie sei wieder gesund. Aber ein wenig Angst bleibt bei Mara. dass Mama eines Tages wieder krank werden könnte und dann nicht mehr nach Hause kommen würde.
Und wenn diese Angst größer wird, wird Mara manchmal wütend, manchmal traurig, manchmal still, manchmal laut. 
Mit ihrer großen Schwester streitet sie viel. Diese ist zu Mara ziemlich gemein und Mara kann sich oft gar nicht wehren. Aber vielleicht hat die Schwester ja auch eine große Angst innen drin?

In die Schule geht Mara gar nicht gerne. Obwohl sie sich am Anfang so bemüht hat, hat sie sich ganz schwer getan, ruhig zu sitzen. Da wird sie von ihrer Lehrerin ermahnt und dann immer wieder geschimpft. Sie ärgert sich darüber und schämt sich vor den anderen SchülerInnen. Dadurch wird sie noch lauter und lästiger. Dabei möchte sie so gerne eine tüchtige Schülerin sein, aber es gelingt ihr nicht. Immer sind sie und ein anderer Schüler die Schlimmen!

Dann kommt Mara in eine andere Schule. Hier sind fast alle LehrerInnen nett. Mara möchte so gerne erfolgreich sein, aber sie traut sich nichts mehr zu. Vor lauter Angst, dass sie Fehler macht und sich blamiert, macht sie gar nichts mehr. Sie wird immer stiller, kann in der Nacht nicht mehr schlafen und ist in der Schule schrecklich müde. 

Mara braucht Hilfe.
Sie möchte verstanden werden, dabei versteht sie sich selbst nicht.
Sie möchte, dass ihr die anderen etwas zutrauen, dabei traut sie sich selbst nichts zu.
Sie möchte gesehen werden mit ihrer Traurigkeit und dem Schmerz, aber gleichzeitig will sie sich verstecken. 
Sie möchte von anderen geliebt und anerkannt werden, dabei hasst sie sich oft selbst und findet sich nervig.
Das alles baut soviel Druck auf in ihr, dass sie beginnt, sich selbst weh zu tun. So ist - für kurze Zeit - der Schmerz innen drinnen überdeckt. 
Doch er kommt wieder. 

Mara bekommt Hilfe. 
Da merkt sie, dass sie etwas kann. Sie kann immer noch wunderbar zeichnen und malen. Und wenn sie sich wirklich bemüht, gelingen ihr auch viele andere Sachen.
Aber es ist sehr schwer, sich wirklich bemühen zu können!
In der Schule nimmt ihre Lehrerin sie an der Hand und sagt: 
Komm, wir arbeiten gemeinsam. Ich gebe dir nicht nach - ich gebe dich nicht auf! 
Gemeinsam lernen sie und Mara ist auf einmal ganz schön fleißig.
Und siehe da: Mara schafft das Lernziel der Klasse.

Für Mara ist es noch ein weiter Weg. 
Sie muss lernen, mit den Gleichaltrigen gut klarzukommen. 
Sich etwas sagen trauen und keine Angst vor Fehlern haben. 
Respektvoll sein und gleichzeitig Spaß haben. 
Sie muss Wege finden, mit ihrer Angst klar zu kommen. 
Sie muss der Freude und der Sicherheit einen guten Platz in ihrem Leben geben.
Aber vor allem: sie muss lernen, sich selbst zu lieben.

Ja, tatsächlich, Mara ist schon einige Schritte gegangen. 

Laut, lästig, provokant … und sensibel

Marco ist einer der Schüler, die wir vermutlich alle gut kennen: laut und lästig, nützt jede Gelegenheit, um Aufmerksamkeit zu bekommen, seine Leistungen sind weit unter dem, was er eigentlich könnte. Dabei ist er sensibel und in praktischen Dingen hilfsbereit. Auch in der Betreuungsarbeit mit mir ist er oft sehr provokant und ablehnend, dann wieder beeindruckend reflektiert mit philosophischen Gedanken.

Ich habe für Marco die Geschichte von Eric geschrieben und sie ihm vorgelesen. Er war sichtlich berührt und wollte, dass ich sie auch einem seiner Mitschüler vorlese. Dieser meinte danach, dass es bei ihm ganz ähnlich gewesen sei.

Die Geschichte von Eric hat keinen guten Ausgang. Aber Marco's Geschichte hat einen guten Ausgang: auch wenn es nicht einfach ist, er hat einen Platz in seiner Klasse gefunden.​​​​​​​

Es war einmal ein kleiner Junge mit dem Namen Eric, der hatte ganz große Ideen. Er machte sich Gedanken darüber, warum die Welt überhaupt existiert und wie der Mond größer und kleiner werden konnte. Er machte sich auch Gedanken darüber, warum manche Menschen klug und andere dumm waren, die einen glücklich und andere traurig.
Er war meistens glücklich. Und er stellte sich vor, dass er irgendwann ein großer Herrscher werden würde und dann würde er dafür sorgen, dass alle Menschen glücklich sein könnten. 

Wie jedes Kind hatte Eric auch Eltern. Er liebte seine Eltern und seine Eltern liebten ihn. Doch irgendwann fiel ihm auf, dass seine Eltern gar nicht mehr so lieb zueinander waren, und dann war der Papa plötzlich nicht mehr da. Aber solange meine Mama da ist, kann mir nichts passieren, dachte er sich. 
Doch dann wurde seine Mama krank. Eric verstand gar nicht, was da los war, aber er sah die Gesichter der Erwachsenen und sah, dass sie sich Sorgen machten. Könnte es sein, dass seine Mama auch plötzlich nicht mehr da sein würde? In seinem Herzen wuchs eine große Angst.

Doch Mama wurde wieder gesund. Ganz gesund, wie die Erwachsenen meinten. Eric wollte ihnen glauben, aber ein bisschen Angst ist in seinem Herzen geblieben. 

Und dann bekam er plötzlich einen Bruder. Mama hatte einen neuen Freund. Eric wusste nicht wirklich, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht.  

Eine Tages kam Eric in die Schule. Er hatte sich darauf gefreut, weil jetzt würde er endlich seine großen Gedanken auch aufschreiben und mit anderen teilen können.
Er hatte soviel große Gedanken in seinem Kopf, dass er erst gar nicht merkte, dass ihm manche kleinen Dinge sehr schwer fielen. Vielleicht waren zu viele Gedanken in seinem Kopf?
Es fiel ihm schwer, sich auf das zu konzentrieren, was ihm seine Lehrerin sagte. Immer waren da auch die anderen Gedanken. Dann wurde er geschimpft und seine Lehrerin sagte, dass er ein schlechter Schüler sei. Er fand das gemein und schämte sich furchtbar. Und dann wurde er wütend. Wenn er schon kein guter Schüler sein konnte, dann würden sie ihn schon noch kennen lernen. Er stellte allerhand Unfug an und störte den Unterricht. Dann wurde er noch mehr geschimpft.
Vor seinen Mitschülern spielte er sich auf: Ich lass mich doch von so einer blöden Lehrerin nicht sekkieren! Aber er spürte, dass er hier keinen wirklichen Freund gefunden hatte.
Außen war er lästig und frech, aber innen wurde Eric immer trauriger, auch wenn er diese Traurigkeit gar nicht mehr spürte. Er vertraute den Erwachsenen und auch den Kindern in der Schule nicht mehr. 

Halt, doch, da gab es wen: ein Lehrer, der schaute ihn freundlich an und machte ihm Mut. Ich sehe, du bist klug. Und du bist traurig und wütend, stimmt es? fragte ihn der Lehrer. Eric traute seinen Ohren nicht, aber sein Herz lachte vor Freude. Gerne hätte er dem Lehrer alles erzählt, aber er fand die Worte nicht. Er lachte ihn nur freundlich an. Und immer wenn er ihn sah, grüßte er ihn schon von weitem. 
Leider hatte er den Lehrer nur in wenigen Unterrichtsstunden. In diesen Stunden aber war Eric tüchtig und erfolgreich.

Dann wechselte Eric die Schule.
Er hatte sich auf die neue Schule gefreut: nun hatte er verschiedene Lehrpersonen und viele neuen Fächer. Geschichte, Mathematik, Englisch, Geografie … Das klang alles sehr spannend. Und vielleicht würden die neuen Lehrer und Lehrerinnen seine großen Gedanken besser verstehen?

Er kam in eine große Klasse - d. h. in eine Klasse mit vielen Schülern und Schülerinnen. Er kannte die meisten schon - es waren seine Klassenkameraden aus der Volksschule. 
Nun wollte er aber zeigen, was er wirklich konnte. Aber es war wie verrückt: er konnte sich einfache Sachen nicht merken, konnte sich nicht konzentrieren und manchmal gar nicht zuhören. 

Und dann kam noch etwas dazu: sein Körper begann zu wachsen. Er kannte sich gar nicht mehr aus: seine Beine und Arme wuchsen, er wurde tollpatschig und fühlte sich häßlich. Auch seine Stimmungen schwankten sehr häufig: gerade war er noch bestens gelaunt, da überkam ihn wegen einer Kleinigkeit eine große Wut und Verzweiflung.

Und die neuen Lehrpersonen?
Ja, manche verstanden ihn tatsächlich besser. Aber sobald er in der Klasse war, verstand er sich oft selbst nicht. Und all die Probleme in der früheren Schule waren wieder da, vielleicht sogar noch schlimmer. Er hatte immer mehr Misserfolge und schließlich musste er in eine andere Klasse: er musste SITZEN BLEIBEN.

Nun also musste er sich wieder an eine neue Klassengemeinschaft gewöhnen. Eigentlich war er froh, dass er nun andere Mitschüler und Mitschülerinnen hatte, nicht mehr jene, die er aus der Volksschule kannte. 
Irgendwie fühlte er sich wohl in der Klasse, auch wenn es ihm noch immer nicht gelang, dass er erfolgreich arbeitete. Er fühlte sich wie der größte Versager.
Was wird aus mir? dachte er sich. Ich möchte ein großer Herrscher sein und schaffe nichts!!

Nun machten sich auch seine Eltern große Sorgen. Was wird aus ihm? dachten sie sich. Er kann so ein tüchtiger, hilfsbereiter, freundlicher Kerl sein und in der Schule ist er lästig und erfolglos.

Da suchte sich die Familie Hilfe. Sie gingen zu einer Ärztin, die ganz genau untersuchte, was Eric konnte und was nicht. Und sie entdeckte, dass Eric klug ist, aber dass er sich bei Einzelheiten sehr schwer tut. Legasthenie nennt man das. 
Eric fühlte sich endlich verstanden. 

Doch das Arbeiten in der Schule blieb schwierig. Mit manchen Lehrpersonen verstand er sich bzw. von manchen Lehrpersonen fühlte er sich verstanden. Da gelang es ihm auch manchmal, dass er freundlich und hilfsbereit war. Von anderen fühlte er sich gar nicht verstanden. Und wenn er in der Klasse vor den anderen MitschülerInnen zurechtgewiesen wurde, fühlte er sich ungerecht behandelt. Wieso werde immer ich zurechtgewiesen? Das lasse ich mir nicht gefallen! Er empfand sich als ehrlich und mutig, wenn er den Lehrpersonen eine lautstarke Antwort gab. Die Lehrer und Lehrerinnen bezeichneten ihn als frech, dabei wollte er sich nur wehren. 

Irgendwann empfand er nur mehr eine riesengroße Wut, sobald er in die Schule kam.
Dass darunter eine große Traurigkeit und Angst steckte, spürte er gar nicht mehr. 

Lernverweigerung

Markus ist ein Schüler, der von Anfang an sehr herausfordernd war. Aufgrund von familiären Herausforderungen und einer schwierigen Beziehung zum Vater ist er beim Schuleintritt äußerst auffällig gewesen. Mit viel Unterstützung (sowohl in der Schule als auch im Elternhaus) und guter Zusammenarbeit ist es gelungen, ihn in seinem Verhalten etwas zu stabilisieren. Geblieben ist aber die Weigerung, in der Schule zu lernen. Irgendwann habe ich für ihn die "Geschichte vom Jungen, der nicht lernen wollte" geschrieben. In dieser Geschichte wird der Junge größer und später selbst Vater. Ich habe die Geschichte vorbereitet bis zu dem Punkt, an dem seine eigenen Kinder in die Schule gehen und ihn eines Tages um Unterstützung bitten. Nachdem ich sie Markus vorgelesen habe, haben wir sie gemeinsam weitergeschrieben und mit einer Idee von Markus zu einem guten Ende gebracht!

Es war einmal ein kleiner Junge mit Namen Gabriel, der wollte nicht lernen.
Seine Eltern bemühten sich sehr und sagten immer wieder: Komm Gabriel, Lernen ist wichtig. 
Aber Gabriel legte sich auf sein Bett und träumte.

Als Gabriel in die Schule kam, bemühten sich seine Lehrerinnen sehr. Komm Gabriel, Lernen ist wichtig. Du bist doch ein kluger Kerl. 
Aber Gabriel legte sich auf seinen Tisch und träumte. 
Und wenn die Lehrerinnen ihn aufforderten, endlich seine Arbeit zu erledigen, begann er zu schimpfen. 
So ließen ihn seine Lehrerinnen einfach liegen. 

Seine Mitschüler fragten ihn oft: Aber Gabriel, warum willst du nicht lernen? Du bist doch ein kluger Kerl. 
Aber auch mit ihnen begann er zu schimpfen. Das wollten seine Mitschüler aber nicht hören und da ließen sie ihn auch auf der Seite liegen. Mit der Zeit beachtete ihn niemand mehr. Und Gabriel lernte nicht lesen, er lernte nicht schreiben und er lernte nicht rechnen. 

Gabriel wurde älter. 
Auch seine Mitschüler wurden älter. Sie hatten viel gelernt. 
Die einen konnten besser rechnen, die anderen besser schreiben oder singen oder waren geschickte Handwerker. 
Jeder suchte sich seinen Beruf aus. Der eine ging ins Büro, der andere als Verkäufer in ein Geschäft, ein anderer wurde Sänger, wieder ein anderer Maurer. Jeder fand einen Beruf, der ihm Spaß machte. 

Nur Gabriel wußte gar nicht, was er gut konnte. Er hatte nichts gelernt. 

Eines Tages lernte Gabriel eine Frau mit Namen Torry kennen. 
Gabriel war ein fescher Mann und er gefiel Torry und Torry gefiel ihm. Sie verliebten sich und heirateten. Und dann bekamen sie Kinder. Acht Kinder. 
Irgendwann kam Torry darauf, dass Gabriel gar nichts gelernt hatte. Sie war sehr erstaunt: Aber Gabriel, du bist doch ein kluger Kerl. Warum hast du nichts gelernt? 
Gabriel traute sich gar nichts zu sagen.

Seine Kinder wurden größer. Auch sie gingen in die Schule. Und als sie von der Schule heimkamen und erzählten, was sie gerade gelernt hatten, wurde Gabriel ganz still. Er schämte sich, dass er nichts gelernt hatte. 
Und eines Tages kamen seine Kinder nach Hause und hatten eine Aufgabe, bei der sie sich nicht auskannten. Sie fragten ihren Papa: Papa, kannst du uns helfen?

Da schämte sich Gabriel aber sehr vor seinen Kindern. 
Er sagte: Liebe Kinder, leider habe ich in der Schule nicht gelernt. Ich weiß auch gar nicht genau, warum ich nicht gelernt habe. Aber ich möchte ein guter Papa sein und darum werde ich jetzt alles nachlernen. 

Und er nahm sich sein Heft und sein Buch aus der Schule und setzte sich hin. Aber er merkte, dass es ihm sehr schwer fiel, alleine zu lernen. Da sagten seine Kinder zu ihm: Das macht nichts, du bekommst eh wieder Freunde. 

Da kam ein Zauberer daher, der schrumpfte Papa. Er wurde wieder klein und konnte in die Schule gehen. Seine Kinder gingen mit ihm in die Schule.

Oh, was ist denn hier passiert? fragte seine Frau.
Der liebe Zauberer hat ihn wieder kleiner gemacht, weil er früher nichts gelernt hat, sagten seine Kinder. 
Dann sagt seine Frau: Dann lerne jetzt ganz fleißig. 

So ging Gabriel wieder in die Schule. Aber diesmal war er ganz fleißig. Er schrieb und rechnete und las und lernte ganz viel. 

Und dann kam der liebe Zauberer und machte ihn wieder groß.

Wenn nun die acht Kinder von Gabriel kommen und fragen: 
Papa, kannst du uns was erklären?
Dann sagt er: Ja, natürlich meine lieben Kinder. Kommt her. Ich helfe euch weiter. 
Bis ihr auch erwachsen seid. 

Da waren Torry und Gabriel sehr glücklich. 

Und zu guter Letzt: die Wundergeschichte

Dass die Geschichte Wunder bewirkt hat, hat mir Lara geantwortet, als ich sie gefragt habe, wie es ihr denn jetzt in der Klasse gehe. Etwa ein Monat zuvor haben wir in einem Gespräch ihre Gedanken zusammengefasst und aufgeschrieben. Eine kleine Geschichte mit wichtigen Gedanken. Aber vielleicht war es gar kein "Wunder", sondern der Mut und die Klarheit von Lara, die in dieser Geschichte zum Ausdruck gekommen sind und die ihr geholfen haben, eine neue Rolle in der Klasse einzunehmen! 

Ich werde von meiner Klasse ausgelacht. 
Nicht von der ganzen Klasse, manche sind auch nett und fair zu mir. Aber besonders von manchen Buben werde ich sekkiert und sie behaupten oft etwas, was gar nicht stimmt. 

Ich werde von vielen schlechter behandelt und manche sind gemein zu mir.
Deshalb möchte ich etwas verändern. Ich will mir das nicht mehr gefallen lassen. Aber ich möchte auch wissen, was der Grund ist, ob ich vielleicht auch Fehler mache. 

Ich habe mich als Klassensprecherin aufstellen lassen, weil ich auch eine gute Rolle in der Klasse haben möchte. Ich möchte nicht immer die sein, die sich nichts traut und über die gelacht wird. Ich weiß, dass ich einen guten Beitrag für die Klassengemeinschaft leisten kann. 
Aber auch wenn ich nicht Klassensprecherin bin, möchte ich einen guten Platz in der Klasse haben. Ich will dazu gehören. Und daran werde ich jetzt arbeiten.

Mag. Andrea Froschauer-Rumpl - Psychologin, Pädagogin, arbeitet seit vielen Jahren als Betreuungslehrerin. War 9 Jahre im Koordinationsteam der OÖ BetreuungslehrerInnen.